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Und was, wenn ich mitkomme?

Und was, wenn ich mitkomme?

Titel: Und was, wenn ich mitkomme?
Autoren: Eva Prawitt
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vorbei. Der Engel hat die Gestalt einer alten, verschrumpelten Frau mit dünnem Haar und dunkler Kittelschürze, nicht gerade das, was man sich unter einem Himmelswesen vorstellt. Aber was wissen wir schon mit unserer beschränkten Wahrnehmung? Dass wir auf dem Camino immer dann, wenn es notwendig war, zur rechten Zeit und am rechten Ort, Hilfe erfahren haben, erleben Pit und ich wie ein Wunder. Wie oft hat sich für uns in den letzten Wochen der Himmel geöffnet! Dabei hat er uns nicht immer das gezeigt, was man im Allgemeinen vom Himmel erwartet. Manchmal kam uns nur Bitteres entgegen und eine große Desillusionierung, aber auch Überwinderkraft und neue Möglichkeiten. Vor allem aber haben wir erlebt, dass immer für uns gesorgt war. Das Versprechen Gottes: »Ich bin bei euch alle Tage« hat sich auf überwältigende Weise erfüllt: durch die Zuwendung und Hilfe anderer Menschen, durch aufmunternde Worte und tiefe, wesentliche Gespräche, durch die kraftspendende Schönheit der Landschaft, die Ruhe, die Zeit und die Ungestörtheit, ganz bei sich selbst und beim anderen zu sein, durch manche durchlittene Erfahrung, die zur lebens- und beziehungsbejahenden Erkenntnis gereift ist... Nicht immer, wie zum Beispiel in Santiago, habe ich hinter meinem Erleben Gott erkennen können. Aber an keiner Leiderfahrung bin ich letzten Endes zugrunde gegangen. Immer zeigte sich — im wahrsten Sinne des Wortes — ein neuer Weg und ein neuer Wegweiser, dem ich vertrauensvoll folgen konnte und der mich dahin geführt hat, wo ich jetzt bin.
    Ob wir also Gott erfahren haben, vielleicht mehr als zu Hause? Wahrscheinlich schon, aber nicht, weil Gott, sondern weil wir selbst auf dem Weg präsenter gewesen sind als sonst in unserem Alltag. Grenzerfahrungen wie die der vergangenen Wochen machen es schwer, sich vor sich selbst oder anderen zu verstecken. In Verzweiflung und Leid zeigt sich der Mensch, wie er ist. »Die Wahrheit wird euch frei machen« verheißt Jesus im 8. Kapitel des Johannesevangeliums. Und genau so erleben wir es auch: Wir fühlen uns frei, uns zu zeigen, wie wir sind, auch wenn wir damit das Risiko eingehen, verletzt zu werden und einander zu verletzen. Doch ebenso wie die Freiheit bietet Jesus auch die Vergebung an und den neuen Anfang: Was für eine Erleichterung und was für eine Chance!
    Wir hatten auf dem Camino Gelegenheit, den Neuanfang zu proben, und wir werden sicher noch lange üben müssen. Aber im Augenblick überwiegt die Freude über jeden Schritt, den wir zurückgelegt haben. Entsprechend gelassen nehmen wir denn heute auch unseren Weg unter die Füße.
    Streckenweise geht es wieder auf breiten Schotter- und weichen Wiesen- und Feldwegen steil bergauf und bergab, und manchmal müssen wir ein paar Asphaltmeter auf der N 550 wandern. Aber auf den Höhen öffnen sich wunderschöne weite Ausblicke über die wie vor uns hingegossene Landschaft. Es gibt wenig Bäume, dafür aber blühende Heide in Rosa- und Lilatönen und schulterhohe, gelb leuchtende Ginsterbüsche. Als wir uns Santiago nähern, meinen wir sogar, in dunstig blauer Ferne die Autobahn und den markanten Kreisel wiederzuerkennen, an dem wir in einer Raststätte vor gut zweieinhalb Wochen auf unserem ersten »Einzug« nach Santiago zu Mittag gegessen haben.
    Komisch, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen, nicht nur räumlich — das erste Mal kamen wir von Osten, jetzt von Norden — , sondern auch emotional. Damals hatten sich, als sollte die Welt untergehen, Donner und Blitz über uns ausgetobt, nirgendwo schien es Schutz und Frieden und Sicherheit zu geben. Jetzt hüllt uns der Sommer warm und weich ein wie mit einer Decke. Alle Frustration hat sich in Glück verwandelt, und ich könnte schreien vor lauter Hochgefühl. Noch vor zweieinhalb Wochen wäre ich am liebsten gestorben, heute feiern wir das Leben. Wie viel hat sich verändert, nicht, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und plötzlich wäre aus Finsternis Licht geworden, sondern eher so, als wäre Helligkeit in einem langsamen und mühevollen Prozess durch Ritzen und Spalten in ein dunkles Zimmer gesickert. Ich hätte Lust, Fenster und Türen dieses Zimmers aufzureißen, obwohl ich ahne, dass es draußen wieder Nacht werden wird. Trotzdem: Die Erfahrungen der letzten Wochen wecken Zuversicht, dass auch wieder ein neuer Tag anbricht. Ich muss nur damit rechnen und die Dunkelheit bis dahin vertrauensvoll aushalten.
    Ungefähr sieben Kilometer vor Santiago gönnen wir uns eine
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