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Und was, wenn ich mitkomme?

Und was, wenn ich mitkomme?

Titel: Und was, wenn ich mitkomme?
Autoren: Eva Prawitt
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will. Sie würde niemals in einen Verein eintreten. Sie mag kein Fleisch und deswegen auch keine Grillpartys. Sie weiß nicht, warum sie auf Schokolade verzichten soll eines Schönheitsideals wegen, das Werbung, Mode und Zeitgeist ihr vorschreiben wollen. Als ihre Großmutter noch eine junge Frau war, galt es als schick, mollig zu sein. Manchmal denkt sie, in der falschen Zeit zu leben. Aber sie orientiert sich ungern an der Vergangenheit und möchte lieber eigene Erfahrungen sammeln. Sie liebt es, neue Gedanken zu denken, und bemerkt gleichzeitig den Schrecken der anderen, wenn sie sie ausspricht. Sie verabscheut die Worte »man« und »muss« und versteht nicht, warum sie eigene Gedanken und die der anderen nicht infrage stellen darf. Sie hasst Selbstverständlichkeiten und fremdauferlegte Verpflichtungen. Sie findet es schrecklich, Erwartungen entsprechen zu müssen, die sie nicht selbst an sich hat. Sie hält große Stücke auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung. Sie spürt Abwehr und schweigt, weil sie Ablehnung ahnt. Aber darin täuscht sie sich vielleicht. Sie traut sich nicht, es auszuprobieren. Beziehungen findet sie anstrengend.
    »Midlife-Krise«, murmelt sie, ohne dass es ihren Mann zu stören scheint. Er bewegt sich nicht einmal. Es ist, als wäre sie gar nicht da. Es könnte genauso gut eine Schaufensterpuppe neben ihm im Bett liegen. Oder abends neben ihm auf dem Sofa sitzen, mit einem Buch auf den Knien, während er im Internet surft, seine Fotos sortiert, Musik hört oder sich eine DVD ansieht. Immer öfter verstreichen die Abende, ohne dass einer vom anderen etwas erfahren hat. Sie sind lange verheiratet. Trotzdem ist er ihr oft fremd. Und sie hat keine Ahnung, was er noch über sie weiß.
    »Quatsch«, denkt sie. Sie will es nicht hinnehmen, alles mit einer Midlife-Krise zu erklären. Abnutzung wäre vielleicht der bessere Begriff und Erneuerung das Ziel.
    Sie weiß, dass es ihrer Genesung nicht dienen wird. Hinter ihrer Stirn trommeln winzige Hämmerchen. Trotzdem schlägt sie die Bettdecke zurück und stellt die Beine auf den Boden. Sie liebt es, den weichen Kork unter ihren bloßen Füßen zu spüren, das Holz der Treppenstufen, die kühlen Steinfliesen im Flur. In der Küche riecht es nach Abwasch und Abendbrot. Die Möbel im Wohnzimmer sind vertraute Schatten. Sie öffnet die Terrassentür und tritt hinaus auf den nachtfeuchten Rasen. Ihr Nachthemd bauscht sich wie Federn. Sie würde gerne fliegen — oder zumindest irgendwie abheben, ein bisschen die Bodenhaftung aufgeben und etwas völlig Neues erleben. Sie ist nicht mehr jung, aber sie fühlt sich auch noch nicht alt.
    Vom Garten aus blickt sie zu dem dunklen Schlafzimmerfenster hinauf. Dort oben träumt ihr Mann. Bei dem Gedanken an ihn weitet sich ihr Herz. Aber gleichzeitig zieht es sich auch zusammen. Wann sind sie sich das letzte Mal begegnet, ohne eine Rolle zu spielen? Wann haben sie sich ihre Seele gezeigt und nicht nur das Bild, das sie voneinander schon seit Jahren kennen?
    Sie sind schon lange zusammen: Vor zwei Jahren haben sie ihre silberne Hochzeit gefeiert...
    Am Himmel zerschmelzen die Sterne, und über dem Kirschbaum zeigt sich ein erster Lichtstreifen. Im Gartenteich spiegeln sich hellgeränderte Wolken. So hat sie dieses Stück Erde noch nie gesehen. Warum eigentlich nicht?
    »Weil ich um diese Uhrzeit noch niemals draußen war«, erklärt sie sich selbst. Was also muss sich ändern? Die Zeit, um den Raum neu zu erleben? Dann vielleicht aber auch der Raum, um die Zeit neu zu fühlen? Oder der Rahmen — was vielleicht bedeutet, etwas auszuprobieren, das sie vorher noch nie gemacht hat, wie zum Beispiel, den Morgen im Garten zu begrüßen.
    Sie dreht sich einmal um sich selbst, legt den Kopf in den Nacken und atmet tief die frische Morgenluft ein. Sie taucht ihre Zehen in den Gartenteich und schüttelt die eisigen Tropfen auf die Wiese. Vorsichtig, als wäre dies eine völlig neue Erfahrung, setzt sie einen Fuß vor den anderen. Unter ihren Sohlen knicken die Grashalme. Und plötzlich, während sie sich zum Haus zurücktastet, weiß sie, was sie tun wird.

    *

    »Hast du dir schon mal überlegt, dass neue Bilder selten in alte Rahmen passen?«, fragt sie.
    Zwei Wochen sind vergangen. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, und die Nasennebenhöhlen sind einigermaßen frei, aber sie fühlt sich immer noch verschnupft. Trotzdem ist sie heute Morgen relativ gut aus dem Bett gekommen. Jetzt sitzt sie mit ihrem Mann beim
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