Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und oben sitzt ein Rabe

Und oben sitzt ein Rabe

Titel: Und oben sitzt ein Rabe
Autoren: Gisbert Haefs
Vom Netzwerk:
würden weitergegeben haben oder, zumindest, daß Sie irgendwo einen Briefumschlag hinterlegt hätten, mit der Aufschrift ›Bei meinem Ableben zu öffnen‹ oder so. Deshalb. Außerdem haben mir Ihre Konjunktive gefallen.«
    Stücker blickte wieder auf die Uhr. »Ich muß gehen.« Er griff nach seinem schäbigen Mantel, setzte die Pelzmütze auf und war wieder der Rentner Bensemeier.
    »Danke für die Warnung im Restaurant«, sagte er dabei. »Als Sie mit Eva reinkamen und die Kisten erwähnten, wußte ich, was die Uhr geschlagen hatte.«
    Baltasar konnte es sich nun nicht verkneifen, seinerseits zu grinsen. »Das war Ihr letzter grober Fehler. Ich hatte nämlich immer noch nichts gegen Sie in der Hand und hätte auch noch nichts unternommen. Erst als Sie jählings aufgebrochen sind und dabei von Philippi geredet haben, Sie Caesaren-Eleve, habe ich beschlossen, den lieben Hauptkommissar über die Autonummer des Kistentransporters zu informieren. Sie hätten also noch Zeit gehabt.«
    Stücker verzog das Gesicht. »Na ja, ist jetzt egal. Haben Sie mich also zweimal geblufft. Sehr gut.«
    Baltasar nahm das Kompliment ungerührt hin. »Was ich nicht verstehe, ist, was Sie unbedingt noch in St. Peter-Ording zu tun hatten.«
    Stücker holte Matzbachs Pistole aus seiner Manteltasche und legte sie auf den Schrank. Baltasar konnte sie zwar sehen, aber sie war für ihn unerreichbar weit weg.
    »Habe ich Ihnen doch schon gesagt«, knurrte Stücker. »Lauren mußte weg. Das hätte natürlich ein Kollege erledigen können, aber ich dachte ja, es wäre eilig. Außerdem hatte Lauren für mich die Villa verkauft und das Geld in bar bei sich.« Er hob eine Aktenmappe hoch, die unauffällig neben dem Schrank gelehnt hatte.
    »Ein kleines Taschengeld. Schließlich hatte der gute Stücker, den es nicht mehr gibt, als Bensemeier viele interessante Dinge gesammelt: Unterlagen, Papiere, Sie wissen schon. Nicht einmal Lauren wußte von dieser Wohnung hier. Das mußte jetzt alles verschwinden. Nun, das habe ich diesen Morgen erledigt, bevor Sie aufgetaucht sind. Es waren hübsche Papiere dabei, über vielerlei Projekte in dieser Republik.«
    Matzbach ächzte. »Wollen Sie damit sagen ...«
    Stücker grinste diabolisch; Bensemeiers Spitzbart zuckte. »Meinen Sie, ich sei der einzige gewesen? Wissen Sie, der Kapitalismus hat zwei Nachteile. Erstens, daß er den Sozialismus mit Technik, Geld und Getreide subventioniert. Und zweitens, daß er sich selbst so gekonnt untergräbt. Dem kann man leicht nachhelfen, und dazu braucht man nicht viel Aufwand. Mißverstehen Sie mich nicht. Ich habe nichts gegen den Westen. Hier habe ich sehr angenehm gelebt. Jetzt werde ich sehr angenehm weiterleben, denn die materiellen Mittel habe ich. Andere machen im gleichen Sinn weiter, und deshalb mußten die Papiere verschwinden. Wenn Sie von wahnsinnigen, teuren und schädlichen Projekten hören, denken Sie an mich und meine Freunde.«
    Er öffnete die Tür und zog den Schlüssel ab, der bisher innen gesteckt hatte.
    »Verlieren Sie nicht die Nerven«, sagte er. »In drei, vier Stunden bin ich in Sicherheit, dann werde ich den zuständigen Leuten mitteilen, wo man sie findet. Ich werde noch ein wenig westliche Schokolade kaufen, als Proviant für den armen alten Bensemeier, und dann geht es los.«
    Er winkte mit dem Spazierstock und lächelte mitleidig. »Übrigens können Sie erzählen, was Sie wollen, es wird Ihnen doch keiner glauben. Die Uhr, mein Lieber, ist abgelaufen. Grämen Sie sich nicht.«
    Er salutierte mit dem Spazierstock. Dann ging er hinaus und zog die Tür zu. Baltasar hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Langsam leiser werdend entfernten sich die Schritte des Mannes auf dem Gang. Dann war alles still.

5. Kapitel
    Baltasar wartete einige Minuten, um sicher zu sein, daß Stücker nicht zurückkehrte. Dann stieß er einen heftigen Fluch aus. »Manche Leute«, knurrte er, »unterschätzen sowohl die Beweglichkeit als auch das Gewicht dicker Menschen.« Er begann, unter Einsatz aller noch einigermaßen beweglichen Muskeln, den Stuhl zu bewegen. Durch mächtiges Vorwölben des Bauchs erreichte er es Millimeter für Millimeter, daß der Abstand zwischen dem Tisch und ihm sich vergrößerte. Dann versuchte er, den Stuhl zum Wackeln zu bringen. Arme und Beine konnte er nicht bewegen, wohl aber die Füße, mit denen er sich vom Fußboden abdrückte, und den Kopf, dessen wildes Pendeln die Füße unterstützte.
    Kurz hinter ihm stand ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher