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Und Nachts die Angst

Und Nachts die Angst

Titel: Und Nachts die Angst
Autoren: Carla Norton
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und glatt, so dass er die Ausrüstung problemlos hin- und herkarren konnte, während die Trägerbalken der Decke hervorragend geeignet waren, um die Haken anzubringen.
    Trotz sorgsamer Planung hatte Daryl Wayne Flint jedoch nicht bedacht, dass die Bars in Seattle auch an verregneten Mittwochabenden bis nach Mitternacht gut besucht sein würden. Oder dass manche Gäste hartnäckig blieben, bis der Barkeeper sie endlich hinauskomplimentierte, und dass der eine oder andere zu betrunken sein würde, um fahren zu können. Und auch nicht, dass ein ganz bestimmter Autofahrer vergessen würde, die Scheinwerfer einzuschalten, und just in dem Moment das steilste Stück der 23rd Avenue herunterschlingern würde, als ein silberner Mercury ihm entgegenkam.
    Flint hatte kaum Zeit zu begreifen, dass die Kollision unvermeidlich war. Das Bersten der Scheiben, als die zwei Autos ineinanderkrachten und über die Straße schleuderten, bekam er schon nicht mehr mit.

1. Kapitel
    San Francisco, Kalifornien
    Dienstag vor Thanksgiving
    D ie Dienstage sind immer eine Bewährungsprobe, und es ist der Weg zur Praxis, der den Tag so schwierig macht, aber davon hat Reeve LeClaire, zweiundzwanzig Jahre alt, ihrem Psychiater noch nichts gesagt. Ihr Weg beginnt mit einem kurzen Marsch zum Ferry Building, wo sie eine heiße Schokolade bestellt, sie wie immer mit hinausnimmt und am Becher nippt, während sie zusieht, wie die Fähren sich aus dem Nebel materialisieren. Die Boote aus Vallejo, Larkspur und Sausalito mit ihrem morgendlichen Andrang an Pendlern ziehen eine Spur aus weißem Schaum und Möwen hinter sich her.
    Als die Sonne durch den Nebel dringt, wendet Reeve ihr Gesicht zum Licht, schließt die Augen und kostet die Wärme auf ihren Lidern aus.
    Niemand achtet auf sie im Strom der Menge, und fast schon ein wenig selbstgefällig macht sie sich bewusst, dass man sie ohnehin nicht erkennen würde. Kaum noch ähnelt sie dem Schulmädchen von den Suchplakaten oder dem käseweißen, verwahrlosten Kind, das auf den Titeln der Boulevardblätter prangte. Obwohl noch immer eher klein, ist sie zwei, drei Zentimeter gewachsen und hat sieben Kilo zugelegt. Ihre Zähne sind gerichtet. Sie ist gepflegt und epiliert und hat ihre Augenbrauen zu präzisen Bögen gezupft.
    Ihre Haare sind inzwischen so gut nachgewachsen, dass sie fast stolz darauf ist. Sie färbt sie oft, mal blond, mal schwarz oder – wie seit neuestem – rotbraun. Sie trägt sie sauber gestuft und stets lang genug, um die Narben zu verdecken, die in ihrem Nacken noch immer zu sehen sind.
    Als die Turmuhr um neun ihre Melodie beginnt, schultert Reeve die Tasche, und beim siebten, achten, neunten Schlag hat sie das Ferry Building verlassen und überquert die Straße zur Market Street. Die Straßenverkäufer und Musiker sind zu beschäftigt, um zum Problem zu werden. Aber je weiter sie sich die Straße entlangzugehen zwingt, umso vorsichtiger muss sie werden.
    Sie presst die Kiefer zusammen. Da kommt der fusselbärtige Mann mit dem Einkaufswagen, über den eine Plane gespannt ist. Der Mann treibt sich immer am Ufer herum, aber sie befiehlt sich, weiterzugehen und stur geradeaus zu blicken, obwohl ihre Haut zu prickeln beginnt.
    Als Nächstes die üblichen zwielichtigen Gestalten an der Bahnstation, ein Spießrutenlauf. Sie steuert um die Menschen herum und steht plötzlich direkt vor dem großen Mann in dem schmierigen Regenmantel. Sie hält den Atem an und hastet weiter, während er ihrem Rücken »Gott segne Sie!« nachbrüllt.
    Sie strafft die Schultern. Es läuft gut. Noch zwei Querstraßen, dann ist sie fast da. Sie spürt die Luft auf ihrem Gesicht. Ihre Beine sind kräftig, und sie marschiert entschlossen weiter.
    Als sie am Straßencafé vorbeikommt, fängt ein gutaussehender junger Kellner ihren Blick auf und lächelt, aber sie sieht weg. Sie traut Männern nicht, die so tun, als sei sie hübsch. Sie weiß sehr gut, dass das nicht stimmt, dass ihre Nase krumm ist und ihr Kinn zu spitz.
    Sie heftet den Blick auf den Gehweg und folgt eine Weile den Füßen vor ihr. Als sie wieder aufblickt, sieht sie erleichtert das Hobart-Gebäude vor sich, wo sich jeder Besucher am Empfang anmelden muss. Sie wartet an der Ampel, balanciert auf den Fußballen, beobachtet den Verkehr und überblickt den letzten gefahrenträchtigen Abschnitt. Die Ampel springt um, und sie eilt über die Kreuzung. In dem Moment, als sie die andere Seite erreicht, fährt der verdreckte Mann im Rollstuhl in ihr
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