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Und manche liebe Schatten steigen auf

Und manche liebe Schatten steigen auf

Titel: Und manche liebe Schatten steigen auf
Autoren: Carl Reinecke
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an dieser altberühmten Stätte, wo von Mozart an fast jeder große Künstler gespielt, und wo Mendelssohn sieben Jahre mit heiligem Eifer seines Amtes als Kapellmeister gewaltet hatte, sollte ich mich nun als berufener Künstler ausweisen. Ein Solistenzimmer gab es in diesen geheiligten, aber äußerlich so bescheidenen Räumen nicht, und bis ich an den Flügel gerufen wurde, hätte ich den Klängen der vorausgehenden Nummern durch die Tür lauschen müssen, wenn es mir nicht gelungen wäre, mich in einem Winkelchen auf dem Podium zu verstecken. Eine Symphonie von Haydn und eine Arie aus dessen „Schöpfung“ waren verrauscht, da trat ein zwölfjähriger Knabe im Jäckchen und mit umgeschlagenem Hemdkragen auf und trug die seinerzeit berühmte Othellophantasie von Ernst mit vollendeter Virtuosität und mit knabenhafter Unbefangenheit vor. Es war Joseph Joachim, dem am Schlusse das sonst etwas reservierte Gewandhauspublikum stürmisch zujubelte. Ich hatte noch eine ganze Weile zu warten, bis ich mich an den Flügel setzen musste, um Mendelssohns Serenade und Allegro giocoso zu spielen. Dass das Publikum meine Leistung zwar freundlich aufnahm, mir aber nicht in gleicher Weise zujauchzte wie dem zwölfjährigen Wunderknaben, kränkte mich nicht, denn ich war verständig genug, um es für selbstverständlich zu halten, dass das Publikum einen Knaben, der auf seiner Geige das ganze Feuerwerk eines brillanten Virtuosenstückes hatte aufblitzen lassen, enthusiastischer belohnte als einen neunzehnjährigen befrackten Jüngling, der die liebenswürdi ge, aber keineswegs bravourmäßig ausgestattete Serenade von Mendelssohn vorgetragen hatte. Von diesem Tage an, da wir beide unser Debüt im Gewandhaussaale gaben, bis zu Joachims Tode sind wir beide stets in treuer Freundschaft verbunden geblieben. Am Abend des 16. November 1843 hätte keiner von uns ahnen können, dass der eine bis in sein hohes Alter fast alljährlich ein jubelnd bewillkommneter Gast im Gewandhause sein würde, der andere aber fünfunddreißig Jahre lang als Kapellmeister dieses Konzertinstitut leiten und dreiundsechzig Jahre später bei der Feier von Mozarts hundertfünfzigstem Geburtstage eins seiner Konzerte in den Prachträumen des neuen Gewandhauses spielen würde.  
      Joachim war das siebente Kind jüdischer Eltern, die in einem kleinen Orte in der Nähe von Preßburg lebten. Ohne seine musikalische Begabung von Vater oder Mutter ererbt zu haben, zeigte er dennoch sehr früh ein bedeutendes Talent, und schon mit sieben Jahren trat der kleine Mann im Adelssaale in Pest als Geiger auf; infolgedessen hatte er das Glück, aufs Konservatorium in Wien gebracht zu werden. Dort wurde ihm der Vorzug zuteil, den Unterricht des berühmten Geigenmeisters Joseph Böhm genießen zu können, der ihn zu dem Künstler machte, der schon als Dreizehnjähriger einem Mendelssohn imponieren konnte. Mit rührender Dankbarkeit hing er an seinem Lehrer und widmete ihm auch sein Opus 1 Andantino und Allegro scherzoso für Violine mit Orchester. Eine sehr schwierige, vierunddreißig Takte umfassende Kadenz in diesem Werke schrieb er mir in mein Album mit der Unterschrift: „Meinem lieben hochgeschätzten Freunde C. Reinecke zur Erinnerung an Jos. Joachim.“ Wie die Schrift noch den Knaben verrät, so hat er auch nach knabenhafter Weise vergessen, das Datum hinzuzusetzen; die Widmung wird aus dem Jahre 1844 stammen, und zwischen diesem, dem ersten, und dem letzten an mich gerichteten Schriftstück, dem Glückwunsch zu meinem achtzigsten Geburtstage, welchen er am 23. Juni 1904 namens der Königlichen Akademie der Künste an mich richtete, mögen wohl rund sechzig Jahre liegen.
        Ganz naturgemäß stak Joachim bei seinem Erscheinen in Leipzig noch ganz im Banne der Virtuosität, aber durch den steten Umgang mit Mendelssohn, der den Knaben wie ein Vater liebte und förderte, ward er gar bald ins Heiligtum der Kunst eingeführt, und fortan verwertete er sein künstlerisches Können lediglich zur vollendeten Wiedergabe wahrhafter Kunstwerke der Geigenliteratur. Im Jahre 1853 spielte er auf dem Niederrheinischen Musikfeste zu Düsseldorf, und ich hatte zufällig das Glück, diesem seinem ersten Auftreten in den Rheinlanden beiwohnen zu können. Welch ein Andrer, Größerer war er inzwischen geworden. Einst Gefolgsmann der Virtuosität, jetzt Priester der Kunst. Er spielte das Beethovensche Violinkonzert, das bis dahin von keiner Interpretation erreichte, welches erst
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