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Und manche liebe Schatten steigen auf

Und manche liebe Schatten steigen auf

Titel: Und manche liebe Schatten steigen auf
Autoren: Carl Reinecke
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das Klavier in den genannten Werken nicht immer mit der gleichen Mäßigung behandelt ist, wie dies seitens Beethovens stets geschehen ist, sondern öfters in so virtuoser Weise, dass der Stil der Kammermusik nicht immer vollständig gewahrt bleibt. - Es erübrigt noch, Mendelssohn als spezifischen Klavierkomponisten zu betrachten, und wenn dies geschieht, muss man zunächst unwillkürlich an seine „Lieder ohne Worte“ denken; schon der Name existierte früher nicht und ist Mendelssohns ureigenste Erfindung. Aber auch ihrem Wesen nach waren sie etwas Neues. Wohl finden sich vereinzelt unter den Werken der frühen Meister Sätze, welche der Form und der Klavierbehandlung nach als Lieder ohne Worte passieren mögen, doch kann man trotzdem dem jüngeren Meister die Originalität als Erfinder dieser Kunstgattung nicht absprechen. Namentlich die ersten fünf Hefte enthalten die reizendsten Blüten Mendelssohnscher Lyrik, so gleich das erste in E-Dur, die venezianischen Gondellieder, das allbekannte sogenannte Frühlingslied, das tiefernste Lied in E-moll, welches Mendelssohn bei seinem letzten Wege in die Gruft geleitete, das trotzige, herrliche Volkslied in A-moll und viele andere. Auch diese schönsten Lieder ohne Worte („Klar wie Sonnenlicht sehen sie einen an“, schrieb Schumann) werden gegenwärtig von den Klaviervirtuosen ziemlich vernachlässigt, und viele ziehen es vor, die verzwicktesten Sachen von Chopin hervorzusuchen, anstatt dem Publikum diese gesunde Kost darzubieten. Aber es wird schon wieder anders werden! Rubinstein war einer der letzten, welcher sie oft – und wie schön! - vortrug. Zu den schönsten Klavierwerken Mendelssohns rechnen wir noch die sechs Präludien und Fugen op. 35 und die Variations sérieuses  . -
    Mendelssohn besitzt so manche ihm durchaus eigentümliche harmonische wie melodische Züge und Wendungen, dass man mit Recht behaupten kann, er habe der Musik manche Bereicherung zugebracht, und diese Eigentümlichkeiten wirkten bei seinem Erscheinen so mächtig, dass ihm viele Nachahmer erstanden, welche die Äußerlichkeit seiner Schreibweise allerdings sehr täuschend nachzuahmen wussten, während ihre Werke inhaltlich weit hinter ihren Vorbildern zurückblieben. So fühlte sich denn Moritz Hauptmann einst zu dem trefflichen Witzwort veranlasst: „Ich habe soeben ein Trio gehört; das war so Mendelssohnisch, dass ich glaubte, es wäre von Bennett, es war aber doch von Horsley.“ Solche Nachahmer sind gefährlich; denn in ihren Werken wird zur Manier, was bei dem Original Eigenart war, und dann kann es geschehen, dass die Welt auch diese für Manier hält.
    Als Dirigent war Mendelssohn hervorragend. Mit dem tiefsten Verständnis alles dessen, was er zu leiten hatte, verband er in seltenem Maße die Gabe, alle seine Instrumentationen den Ausführenden so klar zu machen und auf sie zu übertragen, dass nur ein Geist sie zu beseelen schien. Dabei war er von der größten Pietät gegen die Meister erfüllt, die er interpretierte und erlaubte sich ihnen gegenüber nicht die geringste Willkür. Nur wenn er in die Lage kam, Minderwertiges aufführen zu müssen, versuchte er dem schwachen Werke durch allerlei Vortragskünste aufzuhelfen; wo das aber nicht nötig war, da lag ihm ein solches Gebahren fern. Meisterlich verstand er es, in den Proben durch seinen Humor, durch ein Witzwort oder eine ironische Bemerkung die Ausführenden in gespannter Aufmerksamkeit zu erhalten und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern.  
    Sein Klavierspiel war äußerst schlicht (e xpressivo ma semplice  , wie Beethoven so häufig vorschreibt), von wunderbarer rhythmischer Klarheit, von tiefer Empfindung beseelt und von Begeisterung durchglüht. Seine außerordentliche Virtuosität trat daneben gänzlich in den Hintergrund; wie bedeutend sie aber war, namentlich was die eigentliche solide Fingertechnik anbelangt, wird jeder erkennen, der seine Klavierwerke einmal vorgenommen hat. Manche derselben, wie z. B. das Capriccio op. 6 in Fis-moll, welches er selber scherzweise l'absurdité taufte, gehören für den Klavierspieler zu den schwierigsten Aufgaben. Eine seltene Gabe besaß er auch als Improvisator. Sein Gedächtnis war geradezu phänomenal; so begleitete er einmal dem italienischen Flötisten Briccialdi auswendig ein größeres Solostück, welches er sechs Wochen früher ein einziges Mal  von ihm gehört hatte. Um ein ganz vollständiges Bild von seinen seltenen geistigen Fähigkeiten zu geben, müssen
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