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Und fuehre mich nicht in Versuchung

Und fuehre mich nicht in Versuchung

Titel: Und fuehre mich nicht in Versuchung
Autoren: Vera Bleibtreu
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kreativen Gedanken zusammen-brachte. «Übrigens hat mich Ihr Steffen Vogel an Adrian Leverkühn erinnert, Sie wissen schon!» erzählte Urs gerade begeistert. Susanne wußte überhaupt nichts, nahm aber an, daß Urs bestimmt einen genialen Gedanken hatte.
    Adrian Leverkühn, das war doch eine Figur von Thomas Mann, oder? Wenn sie etwas lästig fand an Urs Bernhardt, dann war es, daß sie sich im Gespräch mit diesem Mann immer so schrecklich ungebildet fand. ‹Sie wissen schon› –  von wegen! Susanne nahm sich zum wiederholten Mal vor, im nächsten Urlaub ihre Bildung aufzufrischen und zumindest einige Standardwerke der Weltliteratur durch-zuackern. Urs plauderte unbekümmert weiter. «Nun, Adrian Leverkühn ist doch auch ein ganz kühler Mensch.
    Er studiert Theologie, um seinen Hochmut zu zügeln, dann wird er Komponist und hält schließlich seine Syphilis für  einen Teufelspakt. Am Schluß schickt er einen Freund in den Tod, jedenfalls bildet Leverkühn sich das ein. Denken Sie da nicht auch sofort an Steffen Vogel?» Susanne hatte Mühe, das auf die Schnelle zu verstehen, wollte sich aber keine Blöße in Sachen Bildung geben und fürchtete einen erneuten Wortschwall Bernhardts. Der fuhr aber schon munter fort: «Vogel ist bestimmt ermordet worden, weil er ein Typ à la Leverkühn war. Doktor Faustus ist überhaupt einer der stärksten Texte von Thomas Mann.» (« Doktor Faustus, das war’s!», dachte Susanne.) Hoffentlich gelingt es der Polizei bald, den Mörder zu finden. Der muß doch auch darunter leiden, daß er diese Tat begangen hat?»
    Susanne zweifelte im stillen daran, daß ein Mitglied der Chinesenmafia sich schlaflos in den Kissen wälzte, nur weil er Steffen Vogel zerteilt hatte. Das war schließlich deren Beruf als Chinesenmafiosi – oder war sie da zu ahnungs- und herzlos? Urs sprach fröhlich weiter: «Apropos Leiden, ich bin morgen zu einem Vortrag in Mainz eingeladen und habe noch keine Zeile. Immerhin weiß ich so ungefähr, was ich sagen will, das ist doch schon was. («Es wird den anderen schon reichen», schmunzelte Susanne im stillen.) Ich wäre Ihnen dankbar, liebe Frau Hertz, wenn ich mich vor dem Vortrag bei Ihnen mit einer Tasse Kaffee stärken könnte und wir uns bei dieser Gelegenheit wieder persönlich in die Augen schauen können. Nach dem Vortrag muß ich mit den Kollegen Essen gehen, da habe ich leider keine Zeit. Aber vorher, das wäre doch schön.
    Beschreiben Sie mir doch mal, wie ich vom Bahnhof zu Ihnen komme.» Urs Bernhardt hatte natürlich keinen Führerschein. «Zuerst hatte ich kein Geld, und dann hat meine Schwester gesagt, ich solle endlich den Führerschein machen, damit sie die erste Prüfung erleben könne, bei der  ich durchfiele. Na, darauf hatte ich auch keine Lust. Und so habe ich bis heute keine Lizenz zum Tanken.» Susanne war dafür auch ganz dankbar, denn sie konnte sich den quirli-gen Wissenschaftler nur als Dauergefahr für den Straßen-verkehr vorstellen. Sie erläuterte Urs den Weg zu ihrer Wohnung in der Altstadt und freute sich, ihn wiederzuse-hen. Ob es ihr bis morgen wohl gelingen würde, wenigstens einige Zeilen Thomas Mann zu lesen?

    * * *
    Wieso konnte Haß so schnell in sich zusammen-sinken wie ein Mensch, der gerade den Todesstoß empfangen hatte. In einem Moment glühend, heiß, bohrend, und im nächsten Moment kraftlos und leer und schal. Wenn nicht alles so schrecklich wäre, könnte man darüber lachen. Der Haß war offensichtlich ein Kind des Teufels. Er gaukelte Befriedigung vor, versprach die innere Ruhe. Wie schön wäre es, log der Haß, wie befriedigend, sich zu rächen, zurückzuzahlen, für alle Gemeinheiten und Verletzungen die Rechnung zu präsentieren: Jetzt ist Zahltag!

    Er wird sich winden, flüsterte der Lügner Haß mit heiserer Stimme, er wird alles verstehen und sich schämen und wird verstehen, was er alles angerichtet hat. Und er wird wimmern und um Verzeihung bitten. Und du kannst dich zurücklehnen und endlich tief durchatmen. Eine Lüge war das. Der Haß hatte getäuscht. Jetzt war alles schlimmer als zuvor. Der Haß war wie eine leere Hülle in sich zusammengesunken, so wie der Mensch, der vom Täter zum Opfer wurde, in sich zusammengesunken war. Zurück blieb: die Stimme, der Vorwurf. «Warum? Warum ich? Gab es keine andere Lösung? Ich will leben!» Doch er lebte   nicht mehr. Und sein Tod hatte wie ein schwarzes Loch alles Leben aufgesogen. Denn: Leben kann man es nicht nennen, was seit diesem Abend
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