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und der verschwiegene Verdacht

und der verschwiegene Verdacht

Titel: und der verschwiegene Verdacht
Autoren: Nancy Atherton
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Sieh dir das Mädchen an, Grayson, sieh es dir gut an.«
    Grayson blickte unbewegt auf das Glasfenster.
    Das schwarze Haar des Mädchens wehte wild um die Kapuze ihres hellgrauen Umhangs, aber sie stand ungebeugt und mit erhobenem Kopf da. Entschlossen hielt sie die Laterne dem Sturm entgegen, und ihre sanften braunen Augen schienen auf etwas geheftet zu sein, das nicht zu sehen war. Von diesem Blick ermutigt, stand Grayson auf.
    Tante Dimitys Stimme klang, als würde sie von weit her kommen: »Weder die Bitten ihrer Mutter noch die Befehle des Herzogs vermochten sie abzu-halten, weder Wind noch Wellen konnten sie schwankend machen, denn ihr Herz war treu und sie gab die Hoffnung nicht auf. Wie ist es nun mit dir, Master Grayson, wirst du weniger standhaft sein?«

    Blitze zuckten, der Donner grollte, und Regen hämmerte aufs Dach, aber Grayson Alexander, der eines Tages der vierzehnte Herzog von Penford sein würde, hatte keine Angst mehr.

1
    Zwanzig Jahre später

    »ALLE NETTEN MÄNNER sind entweder verheiratet oder schwul«, erklärte Rita. »Und nun ist Richard auch verheiratet.« Mit einem Knall schloss sie den Aktenschrank.
    Emma Porter rückte sich die Nickelbrille auf der Nase zurecht und warf einen verstohlenen Blick auf die Freesien auf dem Aktenschrank, die sie am frü-
    hen Morgen in ihrem Garten gepflückt hatte. Die Vase schwankte, blieb aber stehen, und Emma wandte sich schnell wieder dem Keyboard ihres Computers zu. Sie beugte sich vor und ließ ihr langes Haar wie eine Sichtblende zu beiden Seiten des Gesichts herunterfallen. Sie war entschlossen, sich nicht erneut auf die gleiche langweilige Unterhaltung einzulassen, die sie seit sechs Wochen jeden Tag geführt hatte.
    »Damit will ich aber keineswegs sagen, dass Richard ein netter Mann war«, fuhr Emmas Assistentin fort, indem sie sich einen weiteren Stapel Akten auf den Arm lud. »Ich hätte ihm die Augen ausge-kratzt, wenn er mich so behandelt hätte. Keine Augen mehr, um sich an hübschen jungen Dingern aufzugeilen …« Eine weitere Schublade wurde kra-chend herausgezogen und bekam Ritas Missbilli-gung zu spüren.
    »Bitte, Rita – die Freesien!«
    »Tut mir Leid, Emma.« Ritas Stimme bebte vor Empörung. »Aber wenn ich daran denke, wie Richard dich sitzen gelassen hat, nach fünfzehn Jahren …«
    »Wir waren nicht verheiratet«, gab Emma zurück.
    »Aber …«
    »Wir wohnten in verschiedenen Häusern.«
    »Trotzdem …«
    »Wir waren zwei unabhängige Erwachsene.«
    »Ihr wart ein Paar !« Rita kam zurück und stellte sich vor Emmas Schreibtisch. »Fünfzehn Jahre lang habt ihr alles zusammen gemacht. Ihr habt sogar diese große Reise zusammen geplant. Und dann geht er und … und …« In Ritas Augen glitzerten Tränen.
    Ohne vom Bildschirm aufzusehen, angelte Emma eine halbvolle Schachtel Papiertaschentücher vom Fensterbrett hinter sich und reichte sie Rita, wobei sie hoffte, dass sie auf dem Heimweg daran denken würde, eine neue Packung zu kaufen. Es schien ihr, als ob seit Richards Eheschließung die Hälfte der weiblichen Bevölkerung Bostons bei ihr vorbeigekommen wäre, um ihr Beileid zu bekunden, und alle waren in Tränen ausgebrochen.

    »Ach Emma«, brachte Rita mühsam heraus, indem sie versuchte, die Tränenflut zu dämmen, die ihre Wimperntusche zu ruinieren drohte, »wie bringst du es nur fertig, so tapfer zu sein?«
    Eine Hand voll Papiertaschentücher gegen die Wangen gedrückt, kehrte Rita an ihren eigenen Schreibtisch zurück, der vor Emmas Bürotür stand; augenblicklich wurde sie von den anderen Frauen der Abteilung umringt. Emma stand auf und schloss die Tür. Die vergangenen sechs Wochen hatten sie gelehrt, dass eine fest geschlossene Tür die einzige Möglichkeit war, sich ihre mitleidigen Kolleginnen vom Leib zu halten.
    Seufzend langte sie nach der Vase auf dem Aktenschrank, zupfte eine der duftenden Blüten ab und schnupperte daran. Sie wünschte sich, dass ihre Kolleginnen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Schließlich handelte es sich bei ihr und Richard nicht um einen Scheidungsprozess, bei dem schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Sie war genauso abgeneigt gewesen wie er, eine Ehe einzugehen. Sie hatten eine eher pragmatische Beziehung geführt, jeder für sich, aber gleichberech-tigt, und diese Beziehung hatte die meisten konven-tionellen Ehen überdauert. Richard hatte sein Stadthaus in Newton, sie hatte ihr Cottage im Ca-pe-Cod-Stil in Cambridge. Er hatte als Fotograf Karriere gemacht, sie
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