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und der verschwiegene Verdacht

und der verschwiegene Verdacht

Titel: und der verschwiegene Verdacht
Autoren: Nancy Atherton
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strich sie ihm das blonde Haar aus der Stirn. »Du hast doch auch Träume, wenn du an Penford Hall denkst, nicht wahr?«, ermunterte sie ihn. Als der Junge missmutig schwieg, beharrte sie: »Oder meinst du etwa, dass es in Penford Hall wirklich nichts gibt, was dir etwas bedeutet? Nichts und niemanden?«
    Alles, was ich liebe, ist hier, dachte Grayson. Ich würde alles tun, um es zu retten, alles, um Kate hier zu behalten und die anderen Bediensteten zurück-zubringen. Und laut sagte er: »Was nützt das denn?
    Bald sind alle weg, und nichts wird mehr so sein wie früher.«
    »Ach, Unsinn. Das ist doch dummes Zeug.« Tante Dimity schnaubte verächtlich. »Mein lieber Junge, wenn du erwartest, dass ich dir über den Kopf streiche und sage: ›Ach wie traurig, was für ein schreckliches Schicksal‹, dann hast du dich in mir geirrt, dann hältst du mich offenbar für jemanden, mit dem ich persönlich lieber nicht bekannt sein möchte. Ich habe für derlei Torheiten nicht viel übrig, und deine Großmutter hätte es auch nicht gehabt. Denk daran, dass dein Vater nicht ewig der Herzog sein wird. Eines Tages wird Penford Hall dir gehören.«
    »Dann wird es aber leer sein.«
    »Dann musst du es wieder mit Leben füllen.«
    »Es wird noch Jahre dauern, bis …«
    »Wenn eine Sache es wert ist, dass man sie be-sitzt, dann ist sie es auch wert, dass man darauf wartet.«
    »Aber …«
    »Und Penford Hall ist es wert, dass man sich darum bemüht«, sagte Tante Dimity mit Bestimmtheit. »Wenn du im Moment nicht so verstört wärst, würdest du es genauso sehen wie ich. Aber vielleicht drücke ich mich nicht klar genug aus«, fügte sie hinzu. Nachdenklich betrachtete sie das Kirchenfenster, dann legte sie den Arm um den Jungen und strich ihm das wirre Haar glatt. »Sie hätte nicht aufgegeben«, sagte Tante Dimity und blickte mit ihren grauen Augen in die braunen des Jungen.

    »Und ihr standen weitaus schlimmere Dinge bevor als dir. Kennst du die Sage von der Laterne?«
    Grayson nickte und wiederholte pflichtbewusst die Worte, die er so oft gehört hatte: »Vor langer, langer Zeit lebte eine schöne Dame, die einen mutigen Kapitän liebte …«
    »Großer Gott!«, entfuhr es Tante Dimity. »Hat Nanny Cole dir das etwa erzählt? Eine Dame und ein Kapitän? Du liebe Zeit, warum stopft man die Köpfe der Kinder nur mit solchem Unsinn voll? Sie war keine schöne Dame, mein Junge, sondern ein Mädchen aus dem Dorf, das schwer arbeiten musste. Sie war Stubenmädchen in Penford Hall. Und sie liebte keinen Kapitän, sondern den Sohn des Herzogs, der als gewöhnlicher Matrose zur See geschickt wurde. Und ungefähr das Einzige, was an Nanny Coles Version der Geschichte stimmt, ist, dass sie sich liebten.« Tante Dimitys weißer Kopf nickte bedächtig.
    »Nun hör mir gut zu, Grayson, ich erzähle dir jetzt die Geschichte von der Laterne, wie sie sich wirklich ereignet hat. Vielleicht verstehst du dann, warum du Penford Hall nicht aufgeben darfst, egal, was passiert.«
    Grayson bezweifelte, dass die Geschichte Penford Hall retten oder die Dienerschaft zurückbringen könnte, aber Tante Dimitys Arm lag warm um seine Schultern, und er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Also nickte er, lehnte sich gegen Tante Dimity und baumelte gelangweilt mit dem verbundenen Bein.
    »Es ist meist nicht sehr klug«, begann Tante Dimity, »wenn sich ein armes Mädchen in den Sohn eines Herzogs verliebt. Die Liebe mag blind sein, aber Väter sind es ganz bestimmt nicht, und der Herzog fand die Aussicht, ein Zimmermädchen als Schwiegertochter zu bekommen, ganz und gar nicht lustig. Er liebte seinen Sohn zu sehr, um ihm die Sache rundweg zu verbieten – das muss man ihm lassen –, aber er beschloss, die Liebe des Jungen auf die Probe zu stellen, um seiner selbst und um der Familie willen.« Sie sah hinab auf den Jungen, der das Bein jetzt still hielt, und fuhr fort.
    »Das Mädchen wurde ins Dorf zurückgeschickt und durfte sich in Sichtweite von Penford Hall nicht mehr blicken lassen. Der Sohn hingegen wurde dazu verpflichtet, für ein Jahr und einen Tag als gewöhnlicher Matrose auf See Dienst zu tun. Der Herzog hoffte, dass die harte Arbeit ihm seine Verliebtheit austreiben würde.
    Aber es war keine bloße Verliebtheit. Der Sohn des Herzogs hatte seine große Liebe gefunden, und er schwor, dass seine erste Reise zugleich seine letzte sein würde. ›Wenn du noch da bist, wenn ich wiederkehre‹, versprach er dem Mädchen, ›dann werde ich dich nie
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