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und der verschwiegene Verdacht

und der verschwiegene Verdacht

Titel: und der verschwiegene Verdacht
Autoren: Nancy Atherton
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mehr verlassen.‹ Und damit ru-derte er aus dem Hafen von Penford, um auf dem großen Viermaster an Bord zu gehen, der draußen im tieferen Wasser auf ihn wartete.«
    Grayson wandte Tante Dimity das Gesicht zu.
    Plötzlich leuchteten die Augen der alten Frau auf, und ein Blitz schien den Himmel zu zerreißen. Der darauf folgende Donner ließ den Jungen zusam-menfahren. Schützend zog Tante Dimity ihn noch fester an sich, dann fuhr sie fort.
    »Ein Jahr und ein Tag vergingen, und in der Nacht, in welcher der Sohn zurückkehren sollte, gab es ein schweres Unwetter auf dem Meer. Es war ein schrecklicher Orkan mit Wellen so hoch wie Penford Hall und Stürmen, die die stärksten Segel zerfetzten. Die Dorfbewohner, die warm und sicher um ihre Öfen saßen, wussten, dass sich in dieser Nacht kein Schiff in die Nähe der Untiefen vor der Küste wagen würde.«
    »Aber sie hat es nicht geglaubt?«, fragte Grayson, die Augen zum Fenster gewandt.
    »Nein, das hat sie nicht«, bestätigte Tante Dimity. »Obwohl ihre Mutter sie inständig bat, zu Hause zu bleiben, ließ sich das Mädchen nicht davon abbringen. ›Ich muss da sein, wenn er zurück-kommt‹, sagte sie. Und damit nahm sie die Laterne – eine einfache Blendlaterne, nicht höher als fünf-undzwanzig Zentimeter, wie es in jedem Haus im Dorf eine gab – und machte sich auf zu den Klippen, wo sie auf die Rückkehr ihres Liebsten warten wollte.«
    Der Junge saß angespannt da und rückte noch näher an Tante Dimity heran. Er stellte sich die gefährlichen Klippen vor, die hinter der Rückwand der Kapelle in die Tiefe stürzten, und den langen Weg hinunter in die tobende See.
    »Es war ein gefährlicher Gang«, fuhr Tante Dimity mit tiefer, geheimnisvoller Stimme fort. »Den bequemen Weg durfte sie nicht nehmen, denn der führte in Sichtweite an Penford Hall vorbei, und der andere Weg war sehr schwierig. Der Regen peitschte auf sie ein, der Wind zerrte an ihrem Umhang, vor ihr toste die Brandung gegen die Felsen, und überall sah sie dunkle Schatten. Sie fiel wohl ein Dutzend Mal hin, aber immer wieder rappelte sie sich auf … und nochmals … und immer wieder … bis sie im tosenden Wind auf den Klippen stand.«
    »Und dann?«, fragte Grayson atemlos.
    »Dann passierte es. Das, was niemand erklären konnte. Als sie ihre kleine Laterne hochhielt, fing diese an, mit einem überirdischen Licht zu leuchten, ganz sanft erst, dann immer heller und schließlich wie ein Leuchtfeuer, dessen Schein blendend durch die Dunkelheit drang.« Tante Dimity ließ ihre Worte wirken – Grayson sollte sich eine klare Vorstellung von dieser leuchtenden Laterne machen können –, ehe sie leise fortfuhr.

    »Im ersten Morgengrauen sah sie dann das Schiff, den großen Viermaster, beladen mit Gold und Ge-würzen, der ihre große Liebe zurückbrachte und jetzt die sicheren Gewässer vor dem Hafen erreicht hatte. Ein winziges Boot löste sich von ihm, das wie ein Pfeil über die Wellen geschossen kam und dann den Hafen von Penford erreichte.«
    »Sie trafen sich auf dem Kai«, flüsterte Grayson, der sich wieder auf vertrautem Boden fand.
    »Und er erzählte ihr von dem Licht, das sein Schiff durch die Dunkelheit geführt hatte, bis es in Sicherheit war. Und sie erzählte ihm von der Laterne …«
    »Und zusammen erzählten sie es dem Herzog …«
    »Und der Herzog war zutiefst verwundert«, sagte Tante Dimity. »Und von dem Augenblick an liebte er das Mädchen genauso sehr wie seinen Sohn. Und ihr zu Ehren ließ er diese Kapelle erbauen, genau an der Stelle, an der sie gestanden hatte, und er ließ Handwerker kommen, die dieses Fenster mit ihrem Bild darin schufen. Und in die Kapelle stellte er die Laterne, damit bei seinen Nachkommen die Erinnerung an das wundersame Licht niemals erlöschen würde, das seinen Sohn gerettet hatte. Ein Licht, das so hell leuchtete wie ein Blitz und das von der Liebe eines jungen Mädchens entfacht worden war.«
    Tante Dimity sah auf den zerzausten Haar-schopf an ihrer Schulter. »Und einmal alle hundert Jahre …«, forderte sie ihn leise auf fortzufahren.
    »Und einmal alle hundert Jahre«, murmelte der Junge, »leuchtet die Laterne ganz von allein, und der Herzog von Penford muss den Dorfbewohnern ein Fest ausrichten zum Andenken an das Mädchen aus dem Dorf, sonst wird Penford verfallen und das Geschlecht der Penfords wird für immer ausster-ben.«
    »Du musst die Laterne finden, Grayson«, sagte Tante Dimity eindringlich. »Du musst Penford Hall retten.
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