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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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wahrhaft biblischen Ausmaßes!“ fügt er schmunzelnd hinzu.
    „Aber wenn ich ihm seine Fehler verzeihe und noch dazu darum bitte, dass er mir meine vergibt, dann – dann bin ich ja völlig abhängig von ihm! Dann hat er mich in der Hand!“ Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich Rafael an. Dies ist der eigentliche Punkt, dies ist die Angst, die mich umtreibt und verhindert, dass ich mit Finn ins Reine komme. Vielleicht ist diese Angst auch der Grund, warum ich niemals eine Beziehung auf die Reihe bekommen habe. Ich fürchte mich davor, jemanden bedingungslos zu lieben, seine Schwächen zu akzeptieren und über sie hinwegzusehen, denn dann liefere ich mich aus, dann bin ich nackt und schutzlos. Was ist, wenn Finn mich nicht so annehmen kann, wie ich bin, mit all meinen Fehlern und Macken? Was ist, wenn er mir meine Fehler nicht verzeihen kann? Womit schütze ich mich dann vor Verletzungen? Womit verteidige ich mich vor den Unwägbarkeiten einer Liebe, wenn ich alle meine Waffen von vornherein unbrauchbar mache?
    „Abhängigkeiten gibt es in jeder Beziehung, Marco. Das ist eine Binsenweisheit. Und sie sind auch nicht schlimm, solange man sich ihrer bewusst ist und sie sich in einem erträglichen Rahmen bewegen.“
    „Ich kann das nicht“, sage ich mutlos. „Ich traue mich nicht.“
    Rafael seufzt. „Dies ist die einzige Chance, die ich dir biete. Nutze sie.“ Dann hält er den Wagen an und macht den Motor aus. „Wir sind da.“
    Überrascht sehe ich auf. Vor uns liegt das kleine und etwas heruntergekommene Haus, das ich so gut kenne. An der vorderen Fassade blättert der Putz ab, einige Dachziegel haben sich gelöst und liegen zerbrochen auf der Erde. Auf dem eingeschneiten Platz vor dem Gebäude, der durch eine Gaslampe an der Hauswand erhellt wird, steht der Baumstumpf, auf dem Finn immer Holz hackt. In seiner Mitte steckt ein Beil. Das Haus selbst liegt im Dunkeln, nur aus einem Fenster im Erdgeschoss dringt verschwommen gedämpftes Licht. Fast sieht es so aus wie der Schein einer Lichterkette um einen Weihnachtsbaum.
    Wie auf Kommando werden alle im Auto wach. Sie recken sich, strecken ihre steifen Glieder und sehen sich interessiert um.
    „Ich habe Hunger!“ erklärt Simon. Adolf bellt zustimmend.
    „Wo sind wir?“ fragt meine Mutter.
    „Am Ziel“, antwortet Rafael.
    In diesem Moment öffnet sich die Haustür und eine Silhouette tritt nach draußen. Finn wirkt ein wenig hagerer, als ich ihn in Erinnerung habe, als wäre er gerade erst von einer schweren Krankheit genesen, und er hat sich einen Bart stehen lassen. Misstrauisch begutachtet er den fremden Wagen, der vor seinem Haus hält. Ich sehe in sein Gesicht und bin plötzlich unfähig, mich zu rühren. Wie festgefroren bleibe ich auf meinem Platz sitzen, während die anderen zögernd die Türen aufklappen und aussteigen. Es beginnt erneut zu schneien.
    „Los, komm schon“, fordert mich Sabine auf, „du kannst nicht ewig hier drin bleiben.“ Als ich nur störrisch den Kopf schüttele, sieht sie Rafael hilfesuchend an. „Tu was, Engel!“ sagt sie.
    Rafael mustert mich durchdringend und mit gerunzelter Stirn. „Ist das jetzt wirklich so schwer, Marco?“ fragt er leise.
    Ich bin starr vor Angst. „Gib … gib mir noch etwas mehr Zeit. Nur noch ein bisschen!“ flüstere ich.
    Er zögert einen Moment und nickt schließlich. Dann beugt er sich über mich und bläst sanft über mein Gesicht. Meine Wangen und Augenlider prickeln angenehm. „Dann schlaf jetzt“, murmelt er und in seinem Blick ist ein merkwürdiges Glitzern. „Aber nur bis morgen früh. Länger nicht.“
    Eine unerwartete Müdigkeit überkommt mich, meine Augen werden schwer, meine Beine und Arme sind wie Blei. Ich fühle mich, als wäre ich auf Treibsand getreten, und lasse mich von der Dunkelheit verschlingen. Doch bevor der Schlaf mich übermannt, erkenne ich lächelnd, wie sinnlos mein Widerstand in den letzten Tagen war.
    „Wie dumm von mir“, sage ich schlaftrunken, „ich hätte wissen müssen, dass du das kannst. Warum hast du das nicht schon viel früher gemacht? Du hättest alles schneller und einfacher herausbekommen.“
    „Ich konnte dich nicht zwingen, Marco“, höre ich Rafaels Stimme wie aus großer Entfernung. „Dein freier Wille ist das, was gezählt hat – na ja“, ergänzt er leichthin, „jedenfalls mehr oder weniger.“
    Ich spüre noch, wie der Engel mich auf seine Arme hievt, wie schon am Tag zuvor bei meinen Eltern, und durch die Kälte ins Haus
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