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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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diese Worte aussprach, brachte mich zum Lachen – sie deuteten äußerst gelassen darauf hin, dass der fragliche Gentleman seinen eigenen Prinzipien nicht gerecht wurde. Doch hielt ich mich im Zaum und fragte sie, ob sie davon ausgehe, lange in Europa zu bleiben – ob sie sich vielleicht sogar dort niederlassen wolle.
    »Nun, wenn sich meine Rückreise so lange hinauszögert wie meine Anreise, dann wird es mich wohl einige Zeit dort halten.«
    »Und ich glaube, Ihre Mutter sagte gestern Abend, es sei Ihr erster Besuch.«
    Miss Mavis blickte mir auf ihre besonnene Art in die Augen. »Mutter war wirklich redselig!«
    »Es war alles sehr interessant.«
    Sie sah mich weiterhin an. »Das meinen Sie doch nicht ernst«, bemerkte sie dann schlicht.
    »Was hätte ich sonst davon, es zu sagen?«
    »Ach, Männer haben immer etwas davon.«
    »In diesem Fall geben Sie mir das Gefühl, ein schrecklicher Versager zu sein. Allerdings hoffe ich«, fuhr ich fort, »dass Ihnen die Vorstellung, fremde Länder zu sehen, Freude bereitet.«
    »Grundgütiger – das will ich meinen!«
    Dies war schon fast herzlich und munterte mich entsprechend auf. »Schade, dass unser Schiff keines von den schnellen ist, falls Sie es eilig haben.«
    Nach einem kurzen Schweigen brachte sie hervor: »Ach, es ist wohl schnell genug!«
    An jenem Abend stattete ich Mrs. Nettlepoint einen Besuch ab und setzte mich auf ihre Seekiste, die zu meiner Bequemlichkeit unter der Koje hervorgezogen worden war. Es war neun Uhr, aber noch nicht ganz dunkel, da unser Nordkurs uns bereits in die Breiten der längeren Tage befördert hatte. Sie hatte ihr Nest bewundernswert hergerichtet und erholte sich nun von den Mühen. Sie lag in einem Schlafrock und mit einer Haube, die ihr gutstand, auf dem Sofa. Es war seit jeher ihre Angewohnheit, Reisen in der Kabine zu verbringen, wo es stets gut roch – so sehr hatte sie ihre Künste verfeinert –, und sie hatte ein ausgeklügeltes System, wie sie ihr Bullauge geöffnet halten konnte, ohne dass Meerwasser eindrang. Sie hasste das, was sie als Schiffstohuwabohu bezeichnete, und die Vorstellung, beim Hinaufgehen Stewards mit Tellern voller übrig gebliebener Speisen über den Weg zu laufen. Sie behauptete, mit ihrer Lage zufrieden zu sein – wir versprachen einander, uns gegenseitig Bücher zu leihen, und ich versicherte ihr vertraulich, dass ich täglich dutzendmal bei ihr ein und aus gehen würde –, und sie bedauerte mich, weil ich mich in Gesellschaft begeben musste. Sie hielt das für kein sonderliches Privileg, denn sie hatte an Deck, bevor wir aus dem Hafen ausgelaufen waren, einen Blick auf unsere Mitreisenden geworfen.
    »Oh, ich bin ein unverbesserlicher, fast schon professioneller Beobachter«, erwiderte ich, »und mit diesem Laster ebenso beschäftigt wie eine alte Frau, die in der Sonne strickt. Es lässt mich in jeder Situation, ungeordnet und demütig, Dinge sehen . Ich werde sogar hier welche sehen und sehr oft zu Ihnen hinunterkommen und Ihnen alles erzählen. Heute haben Sie kein Interesse daran, aber sicher schon morgen, denn ein Schiff ist eine große Schule des Tratsches. Sie werden nicht glauben, in wie viele Erkundigungen und Probleme Sie verwickelt sind, wenn wir die halbe Strecke zurückgelegt haben.«
    »Ich? Nie und nimmer! Ich werde hier liegen, meine Nase in ein Buch stecken, und alles andere wird mir egal sein.«
    »Sie werden indirekt daran teilhaben. Sie werden durch meine Augen sehen, an meinen Lippen hängen, Partei ergreifen, Leidenschaften empfinden, alle Arten von Zuneigung und Empörung. Es kommt mir so vor«, setzte ich meine Spekulationen fort, »dass Ihre junge Dame die Person an Bord ist, die mich dabei am meisten interessiert.«
    » Meine junge Dame! Sie hat mich nicht besucht, seit wir abgelegt haben.«
    »Da sehen Sie’s – Sie haben das Gefühl, dass sie Ihnen etwas schuldet. Nun«, fügte ich hinzu, »sie ist sehr eigenartig.«
    »Ihre Ausdrucksweise ist dermaßen kaltblütig!«, klagte Mrs. Nettlepoint. » Elle ne sait pas se conduire. Sie hätte herkommen und sich nach meinem Befinden erkundigen sollen.«
    »Ja, weil Sie unter ihrer Obhut stehen«, lachte ich. »Ob sie nicht weiß, wie man sich benimmt? Nun, das ist genau das, was wir herausfinden werden.«
    »Sie vielleicht, ich nicht! Ich will nichts mit ihr zu tun haben.«
    »Sagen Sie das nicht – sagen Sie das nicht.«
    Mrs. Nettlepoint warf mir einen kurzen Blick zu. »Warum so ernst?«
    Ich erwiderte ihren Blick. »Das
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