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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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wenn Sie sich im Sinne meiner Anspielung gedanklich darauf einstellen, dann wird das alles rechtfertigen. Er wird nicht zur Verantwortung gezogen werden.«
    »Himmel, wie Sie alles zerpflücken!«, rief sie. »Ich teile nicht im Geringsten Ihre Leidenschaft, sich den Kopf zu zerbrechen.«
    »Wenn Sie es also darauf ankommen lassen«, erwiderte ich, »werden Sie noch unmoralischer sein.«
    »Sie haben merkwürdige Gedankengänge«, sagte Mrs. Nettlepoint, »zumal Sie es waren, der mir gesterneinreden wollte, dass sie ihn gebeten hat mitzukommen.«
    »Ja, aber mit guten Absichten.«
    »Was wollen Sie denn unter diesen Umständen damit sagen?«
    »Nun, wie sich solche Mädchen nun einmal benehmen«, erläuterte ich. »Ihre Nachsicht und ihre Toleranz sind in derlei Angelegenheiten viel größer als die, wie Sie sagen, junger Menschen, die eine gute Erziehung genossen haben. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich sie deshalb alles in allem nicht für unschuldiger halte. Miss Mavis ist verlobt, sie soll nächste Woche heiraten, aber es ist eine uralte Geschichte und hat für sie nichts Romantischeres, als wenn sie sich fotografieren ließe. So geht ihr normales Leben weiter, und ihr normales Leben besteht darin – so wie das von ces demoiselles im Allgemeinen –, die Gesellschaft zahlreicher Gentlemen zu genießen. Natürlich auf eine harmlose Art und Weise.«
    Mrs. Nettlepoint hatte mir aufmerksam zugehört. »Nun, wenn es harmlos ist, wovon sprechen Sie dann, und warum bin ich unmoralisch?«
    Ich zögerte lachend. »Das nehme ich zurück – Sie sind vernünftig und von gesundem Urteilsvermögen. Ich bin mir sicher, sie glaubt, dass es niemandem schadet«, fügte ich hinzu. »Das ist der springende Punkt.«
    »Der springende Punkt?«
    »Ich meine, was es zu klären gilt.«
    »Grundgütiger, wir können sie doch nicht vor Gericht stellen!«, rief meine Freundin. »Wie können wir es klären?«
    »Ich meine natürlich, dass wir es heimlich herausfinden werden. Während der nächsten zehn Tage wird es keine interessantere Übung geben, um unseren Verstand zu schärfen.«
    »Unser Verstand wird dessen bald schrecklich überdrüssig sein«, sagte Mrs. Nettlepoint.
    »Nein, nein – denn das Interesse wird zunehmen und die Geschichte immer verwickelter werden. Es kann einfach nicht langweilig werden«, beharrte ich. Sie sah mich an, als hielte sie mich für schlimmer als Mephistopheles, und ich kam auf etwas zurück, was sie kürzlich erwähnt hatte. »Sie hat Ihnen also erzählt, ihr Leben sei vollkommen trübselig?«
    »Nicht vollkommen, aber größtenteils. Und ich habe es eher geschlussfolgert, als dass sie es ausdrücklich gesagt hätte. Das nächste Mal erzählt sie mir mehr. Sie wird sich nun anständig benehmen und mich oft besuchen. Ich sagte ihr, dass sie das tun sollte.«
    »Das freut mich«, sagte ich. »Sie soll Ihnen nur so oft wie möglich Gesellschaft leisten.«
    »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, erwiderte Mrs. Nettlepoint. »Soweit ich es aber kann, zeugen Ihre Bemerkungen von einem recht fragwürdigen Geschmack.«
    »Nun, ich bin zu aufgeregt, ich verliere meinen Kopf indieser Disziplin«, musste ich zugeben, »zumal Sie mich für so kaltblütig halten. Hat sie Mr. Porterfield nicht gern?«
    »Ja, das ist das Schlimmste.«
    Ich brachte sie immer wieder dazu, große Augen zu machen. »Das Schlimmste?«
    »Er ist anständig – man kann keinen Makel an ihm entdecken. Sonst hätte sie das Ganze gelöst. Es zieht sich hin, seit sie achtzehn war: Sie wurde seine Verlobte, bevor er nach Übersee ging, um zu studieren. Es war einer jener sehr jugendlichen und völlig unnötigen Fehler, die Eltern in Amerika viel öfter verhindern sollten, als sie es tun. Die Hauptsache ist, darauf zu bestehen, dass die Tochter wartet und die Verlobungszeit lang ist. Dann, wenn der Anfang gemacht ist, schenkt man der Angelegenheit so wenig Beachtung wie möglich – damit sie verkümmert. Man kann sie ganz leicht sterbenslangweilig werden lassen«, bemerkte Mrs. Nettlepoint fachkundig. »Mr. Porterfield«, schloss sie, »hat diese Sache jedoch einige Jahre lang ernst genommen. Er hat seinen Teil dazu beigetragen, sie am Leben zu erhalten. Sie sagt, er vergöttere sie.«
    »Seinen Teil beigetragen? Sein Teil wäre doch gewiss gewesen, sie inzwischen zu heiraten.«
    »Er hat absolut kein Geld.« Meine Freundin war sich dieses Umstands noch sicherer, als ich es gewesen war.
    »In sieben Jahren hätte er einiges verdienen
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