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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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Er fügte sich in dieser Sache endlich seinem Schicksal. »Ich habe mein Telegramm.«
    »Ach, Ihr Telegramm!« Ich wagte ihn ein wenig zu sticheln. »Dieses bezaubernde Mädchen ist Ihr Telegramm.«
    Er warf mir einen Blick zu, doch konnte ich in der Dunkelheit nicht gut genug sehen, um ihn zu deuten. Dann beugte er sich über seine Mutter und küsste sie. »Meine Nachricht ist nicht besonders zufriedenstellend. Ich fahre deinetwegen .«
    »Ach, du Schmeichler!«, antwortete sie. Aber natürlich war sie entzückt.
Kapitel II
    Für gewöhnlich verbringen die Passagiere die ersten Stunden einer Seereise damit, sich in ihre Kabinen zu zwängen, ihre entweder übertriebenen oder unzureichenden kleinen Vorkehrungen zu treffen, sich zu wundern, wie man wohl so viele Tage in solch einem Loch verbringen kann, und den Stewards, die im Vergleich dazu wie stattliche Männer von Welt wirken, dämliche Fragen zu stellen. Meine eigenen Weihen wurden rasch vollzogen, so wie es einem alten Seemann gebührt, und dasselbe galtanscheinend auch für Miss Mavis, denn als ich eine halbe Stunde später das Deck erklomm, traf ich sie dort allein im Heck des Schiffes, ihren Blick auf den schwindenden Kontinent gerichtet. Für seine Größe verschwand er ziemlich schnell. Ich gesellte mich zu ihr, da ich inmitten der vielen Abschiednehmenden und dem Durcheinander der Lebewohls, bevor wir ablegten, nicht mit ihr gesprochen hatte. Wir unterhielten uns ein wenig über das Schiff, unsere Mitreisenden und unsere Aussichten, und dann sagte ich: »Ich glaube, Sie erwähnten gestern Abend einen mir bekannten Namen – Mr. Porterfield.«
    »O nein, ich bestimmt nicht!«, erwiderte sie sehr direkt, während sie mich durch ihren tief ins Gesicht gezogenen Schleier anlächelte.
    »Dann Ihre Mutter.«
    »Höchstwahrscheinlich meine Mutter.« Und sie lächelte weiter, als hätte ich es besser wissen müssen.
    »Ich erlaube mir, auf ihn zu sprechen zu kommen, weil ich glaube, mit ihm bekannt zu sein«, fuhr ich fort.
    »Oh, ich verstehe.« Und sie schien über diese Bemerkung hinaus kein Interesse daran zu haben. Sie überließ es mir, eine Verbindung herzustellen.
    »Das heißt, wenn es dieselbe Person ist.« Mir kam es kläglich vor, nichts weiter zu sagen, also fügte ich hinzu: »Mein Mr. Porterfield hieß David.«
    »Nun, unserer auch.« »Unserer« erschien mir eine schlaue Wortwahl.
    »Vermutlich werde ich ihn wiedersehen, wenn er Sie in Liverpool abholt«, fuhr ich fort.
    »Nun, es wäre schlimm, wenn er das nicht täte.«
    Es war noch zu früh für mich, mir vorzustellen, dass es schlimm wäre, wenn er es täte: Das kam erst später. Also bemerkte ich, dass ich ihn wahrscheinlich nicht wiedererkennen würde, da ich ihn so viele Jahre nicht gesehen hatte.
    »Nun, ich habe ihn auch einige Zeit nicht gesehen, gehe aber davon aus, dass ich ihn trotzdem wiedererkennen werde.«
    »Ach, bei Ihnen ist es etwas anderes«, erwiderte ich arglos und heiteren Sinnes. »Ist er seit jenen Tagen nicht in der Heimat gewesen?«
    »Ich weiß nicht«, beteuerte sie standhaft, »welche Tage Sie meinen.«
    »Als ich ihn in Paris kennenlernte – vor Urzeiten. Er besuchte die École des Beaux Arts. Er studierte Architektur.«
    »Nun, er studiert es immer noch«, sagte Grace Mavis.
    »Hat er es denn noch nicht gelernt?«
    »Ich weiß nicht, was er gelernt hat. Ich werde es erfahren.« Dann fügte sie zugunsten meiner vielleicht unangebrachten Leichtfertigkeit hinzu: »Architektur ist ein sehr schwieriges Fach, und er ist ungeheuer gründlich.«
    »O ja, daran erinnere ich mich. Er war bewundernswert fleißig. Aber er muss Ihnen ziemlich fremd gewordensein, wenn er seit so vielen Jahren nicht mehr zu Hause gewesen ist.«
    Sie schien diesen Gedanken zunächst kompliziert zu finden, aber sie antwortete mir, so gut sie konnte. »Oh, er ist nicht wankelmütig. Wenn er wankelmütig wäre …«
    Doch dann schwieg sie. Sie wollte wohl anmerken, dass er sie schon vor langer Zeit aufgegeben hätte, wenn er wankelmütig wäre. Einen Augenblick später fuhr sie fort: »… hätte er sich nicht derart an seinen Beruf geklammert. Man verdient damit nicht viel.«
    Ich versuchte, ihre recht eigenartige jungfräuliche Verbissenheit abzumildern. »Es kommt darauf an, was Sie unter viel verstehen.«
    »Man wird davon nicht reich.«
    »Ja, natürlich braucht man berufliche Erfahrung – und man muss lange arbeiten.«
    »Ja – das sagt Mr. Porterfield auch.«
    Die Art und Weise, wie sie
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