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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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blieben wir anderen etwas steif und schweigend zurück, weil wir dies spürten, während sie fortblieb. Ich erwartete Mrs. Mavis’ Aufbruch, damit auch ich gehen konnte, und Mrs. Nettlepoint erwartete, dass sie aufbrach,damit ich nicht vorher ging. Dies ließ uns die Abwesenheit der jungen Dame zweifellos länger erscheinen, als sie in Wirklichkeit war – wahrscheinlich war sie nur sehr kurz. Überdies schien sich die Sorglosigkeit ihrer Mutter zu verflüchtigen. Jasper Nettlepoint kehrte bald in den hinteren Salon zurück, um seiner Gefährtin ein Glas mit unserem klaren Fruchtsirup zu holen, und er nutzte die Gelegenheit, um anzumerken, wie herrlich es auf dem Balkon sei: Man bekomme wirklich etwas Luft, da der Wind aus dieser Richtung wehe. Als er mit seinem klimpernden Glas davonzog, erinnerte ich mich, dass Miss Mavis vor ein paar Minuten nicht bereit gewesen war, dieses unschuldige Angebot aus meiner Hand anzunehmen. Kurz darauf sagte Mrs. Nettlepoint: »Nun, wenn es dort so angenehm ist, dann sollten wir lieber auch hinübergehen.« Wir gingen also nach vorn und trafen im anderen Zimmer die beiden jungen Leute, die gerade vom Balkon hereintraten. Im Licht späterer Ereignisse sollte ich mich fragen, wie lange die beiden wirklich zwei der Rattanstühle okkupiert hatten, die den Ort im Sommer zierten. Wenn es nicht mehr als fünf Minuten gewesen sind, würde das die nachfolgenden Vorgänge noch umso seltsamer erscheinen lassen. »Wir müssen gehen, Mutter«, sagte Miss Mavis sofort, und einen Augenblick später, nach einem kleinen Wiederaufflackern des Geplauders über unser allgemeines Wiedersehen auf dem Schiff, hatten sich die Besucher verabschiedet. Jasperbegleitete sie zur Tür, und gleich nachdem sie gegangen waren, machte Mrs. Nettlepoint ihrem Eindruck zünftig Luft. »Ach, sie wird doch langweilig sein – sie wird die Langweiligste aller Langweiler sein!«
    »Gewiss nicht, weil sie zu viel redet.«
    »Affektiertes Schweigen ist genauso schlimm. Ich hasse diese eigentümliche Pose . Die kommt gerade sehr in Mode. Den Engländern abgeschaut, wie alles andere auch. Ein Mädchen, das auf See versucht, sich statuenhaft zu geben – das wird bestimmt eine Nervenprobe!«
    »Ich weiß nicht, was sie darstellen möchte, aber sie hat Erfolg damit, ausgesprochen hübsch auszusehen.«
    »Umso besser für Sie. Ich überlasse sie Ihnen, denn ich werde mich einsperren. Wie schön, dass man sie in meine ›Obhut‹ gibt!«, rief meine Freundin.
    »Jasper wird sich um sie kümmern«, bemerkte ich.
    »Ach, er wird nicht mitkommen«, jammerte sie. »Ich wünsche es mir zu sehr!«
    »Da bin ich anderer Meinung. Mir scheint, er fährt.«
    »Warum hat er mir dann nichts gesagt – als er zurückkam?«
    »Er wurde von der jungen Frau abgelenkt – er hatte nicht damit gerechnet, hier ein schönes Mädchen vorzufinden.«
    »Abgelenkt? Und seine Mutter und ihre liebevolle Hoffnung? Seine Mutter, die zitternd auf seine Entscheidung wartet?«
    »Nun ja«, ich versuchte die richtigen Worte zu finden, »sie ist eine alte Freundin, was wissen wir schon. Es war ein Wiedersehen nach langer Trennung.«
    »Ja, bei den Scharen, die er kennt!« Mrs. Nettlepoint seufzte.
    »Bei den Scharen?«
    »Er hat so viele Freundinnen – in den verschiedensten Kreisen.«
    »Nun, dann bleibt sie in unserer Mitte«, erwiderte ich, »denn ich meinerseits kenne, oder besser, kannte ihren jungen Mann.«
    »Ihren Zukünftigen?« Das tröstete sie ein wenig.
    »Jawohl, ihren Verlobten. Übrigens«, fiel mir ein, »er wird wohl inzwischen nicht mehr der Jüngste sein.«
    »Das hört sich so seltsam an – wie sie ihm hinterhertrottet!«, sagte Mrs. Nettlepoint.
    Ich wollte erwidern, dass es einem nicht seltsam erschien, wenn man Mr. Porterfield kennt, doch kam mir der Gedanke, dass es dadurch nur noch seltsamer wirken müsste. Ich schilderte meiner Gefährtin in kurzen Worten, wer er war – dass ich ihn damals in Paris getroffen hatte, als ich einen flüchtigen Moment daran glaubte, Malen lernen zu können, als ich mit der jeunesse des écoles zusammenlebte, und ihr Kommentar dazu war schlicht: »Nun, er hätte lieber herkommen sollen, um sie zu holen!«
    »Vielleicht. So wie sie da saß, kam es mir vor, als würde sie es sich noch in letzter Minute anders überlegen.«
    »Ihre Heirat?«
    »Die Reise. Aber jetzt wird sie dabeibleiben.«
    Jasper kehrte zurück, und seine Mutter stellte ihn sofort zur Rede. »Also, kommst du mit?«
    »Ja, dass werde ich.«
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