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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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»anhängte«. War eine Art romantisches oder allzu gefühlvolles Interesse, das für gewöhnlich ein gutmütiges Wesen weckt, das einer »langen Verlobungszeit« zum Opfer fiel, der Grund dafür, warum sie mich von Anfang an für sich einnahm – nun, da mir so früh schon ein flüchtiger Einblick in ihre Geschichte gewährt wurde? Ich konnte ihr gewiss keine ausdrückliche Aufforderung anlasten. Sie schwieg nur und lächelte, und ihr Lächeln ließ jede Vermutung, die sich mir ansonsten aufgedrängt hätte, verstummen – dass die Begeisterung in ihrem Herzen erloschen war, die Begeisterung für jenes Versprechen, zu dessen wortgetreuer Einlösung sie nunmehr verdammt war.
    Wie ich hinzufügen muss, wurde meine Vermutung allerdings nicht durch die merkwürdige Erinnerung korrigiert, die immer deutlicher Gestalt annahm, währendich über sie nachdachte – eine geistige Assoziation, die durch den Namen Mr. Porterfield geweckt wurde. Sicher hatte ich einen persönlichen, verwischten und verschwommenen Eindruck von dem Gentleman, der in Liverpool auf Mrs. Nettlepoints Protegé wartete oder bald warten würde. Ich hatte ihn getroffen, ihn kennengelernt, irgendwann, irgendwo, irgendwie, in Übersee. Studierte er vor zehn Jahren nicht irgendetwas, sehr intensiv, irgendwo – wahrscheinlich in Paris –, und machte er nicht außergewöhnlich geschmackvolle Strichzeichnungen und architektonische Skizzen? Speiste er nicht für zwei Franc fünfundzwanzig an einer table d’hôte in der Rue Bonaparte, wo ich damals häufig einkehrte, und trug er nicht eine Brille und ein schottisches Plaid, drapiert auf eine Weise, die zu sagen schien: »Mir wurde aus vertrauenswürdigen Quellen versichert, dass man es in den Highlands ebenso trägt«? War er nicht bekannt für seine extreme Gereiztheit und dazu sehr arm, so arm, dass man es wirkliche Not nennen konnte, so dass ich annahm, er besäße keinen Mantel und schliefe nachts unter seinem Tartan? Arbeitete er nicht immer noch äußerst hart, und würde er unter normalen Umständen nicht immer noch bezweifeln, dass er den Boden unter den Füßen gefunden oder genug gelernt hatte, um seine Karriere anzupacken? Er war wohl ein Mann, der langen Anlauf brauchte – Miss Mavis bleiches Gesicht schien dies zu bezeugen. Ich glaubte, ich hätte keinen so langen Anlauf gebraucht, umihr näherzukommen, wenn ich in sie verliebt gewesen wäre. Sein Fach war Architektur, und er studierte an der École des Beaux Arts. Diese Erinnerung stand mir mit der Zeit so klar vor Augen, dass ich – als natürliche Folgerung – das seltsames Gefühl hatte, ziemlich viel über die junge Dame zu wissen.
    Selbst nachdem man vereinbart hatte, dass Mrs. Nettlepoint alles Menschenmögliche für sie tun würde, blieb die andere Besucherin sitzen, nippte an unseren eisgekühlten Getränken und erzählte, wie »schwach« Mr. Mavis gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt kam mir das Schweigen des Mädchens noch dezidierter vor, vielleicht weil sie einerseits den freimütigen Redefluss ihrer Mutter missbilligte – sie war »Zierde« genug, dies zu beurteilen –, andererseits weil sie der Gedanke, ihren kranken, womöglich sterbenden Vater zu verlassen, allzu sehr bekümmerte. Man konnte nicht übersehen, dass die Familie arm war und sie nur eine ausgesprochen dürftige Aussteuer mit in die Ehe brachte. Wenn Mr. Porterfield beabsichtige, die fehlende Summe auszugleichen, dann hätte er sein eigenes Leben gründlicher ändern müssen. Falls er inzwischen durch die erfolgreiche Ausübung seines Berufs zu Wohlstand gekommen war, waren mir bislang keine diesbezüglichen Hinweise untergekommen – sein Ruf war nicht bis zu mir vorgedrungen.
    Mrs. Nettlepoint unterrichtete ihre neuen Freunde davon, dass sie auf See stets untätig blieb. Sie sei gern bereit,Miss Mavis auf ihrem Leidensweg von Anfang bis Ende zu begleiten, aber nicht dazu in der Lage, mit ihr auf dem Deck zu flanieren, sich mit ihr abzumühen, ihr zu den Mahlzeiten Gesellschaft zu leisten. Daraufhin antwortete das Mädchen, sie werde ihr sicher keine Umstände machen: Sie sei überzeugt, sie werde einen schlechten Seemann abgeben und die Reise, auf dem Rücken liegend, verbringen. Ihre Mutter spottete über dieses Bild, prophezeite herrliches Wetter und eine vergnügliche Zeit, und ich warf ein, dass man auf mich, einen harmlosen Junggesellen mit leidlicher Reiseerfahrung, zählen könne und ich entzückt wäre, dem neuen Mitglied unserer Gesellschaft meinen Arm
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