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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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mir gehört«, sagte die gute Dame. »Aber Mrs. Allen schickt mich, ich schätze, das spricht für mich. Sie kennen Mrs. Allen, nehme ich an?«
    Diese einflussreiche Persönlichkeit war mir unbekannt, aber ich stimmte ihrer Vermutung vage zu. Mrs. Allens Abgesandte war gutgelaunt und vertraulich, aber eher im reizvollen denn im aufdringlichen Sinne (sie bemerkte, alles wäre natürlich in Ordnung, falls ihre Freundin die Zeit gefunden habe, am Nachmittag vorbeizuschauen – nur hätte diese so viel zu tun und sei zudem nur einen Tag in der Stadt, so dass sie sich dessen nicht sicher sein könne). Sogar noch bevor sie die Merrimac Avenue erwähnte (von dort waren sie den ganzen Weg hierher gekommen), hatte sie meine Phantasie bereits mit jener unbestimmten gesellschaftlichen Vorhölle in Verbindung gebracht, welche anständigen Bostoner Bürgern als SouthEnd bekannt war – eine nebulöse Region, die sich hier und da zu einem hübschen Gesicht verdichtet, wo Töchter ihren Müttern eine »Zierde« sind und manchmal mit Gentlemen aus prächtigeren Wohngegenden Bekanntschaft schließen, mit Gentlemen, deren Frauen und Töchter an diesen Bekanntschaften nicht teilhaben.
    Als Mrs. Nettlepoint endlich eintrat, ausgestattet mit Kerzen und einem Tablett voller Gläser, die eine farbige Flüssigkeit enthielten und ein kühles Klimpern vernehmen ließen, fiel es mir zu, den Zeremonienmeister zu geben, Mrs. Mavis und Miss Grace Mavis vorzustellen, zu erklären, dass sie soeben der Empfehlung, ja der dringenden Bitte von Mrs. Allen, zwang- und furchtlos vorbeizuschauen, nachgekommen seien, während Mrs. Allen lediglich durch die für sie so typische Zeitknappheit (insbesondere wenn sie aus Mattapoisett herbeieile, um ein paar Stunden lang dringende Einkäufe zu tätigen) daran gehindert worden sei, im Lauf des Tages einen Besuch abzustatten, um zu erläutern, wer die Damen seien und um welche Gunst sie ihre gütige Freundin ersuchen müsse. Gutmütige Frauen verstehen einander, auch wenn sie aus verschiedenen Stadtteilen kommen und demzufolge sozusagen am oberen und unteren Ende der Tafel sitzen. Aus diesem Grunde hatte unsere Gastgeberin rasch die wichtigsten Fakten ermittelt: Mrs. Allens Besuch an jenem Morgen in der Merrimac Avenue, um über Mrs. Ambers großartige Idee, den Unterricht an den öffentlichenSchulen in den Sommerferien, zu sprechen (sie brachte – sogar bei diesem Wetter! – dem South End gleiche Barmherzigkeit entgegen wie Mrs. Mavis), wo Spiel und Sport und Musik die armen verwahrlosten Kinder von der Straße fernhalten sollten. Dann die Offenbarung, dass plötzlich, fast von einer Minute auf die andere, feststand, dass Grace nach Liverpool auslaufen solle, da Mr. Porterfield endlich bereit sei. Er nehme gerade ein paar Tage Urlaub. Seine Mutter sei bei ihm, sie seien von Paris nach England gereist, um sich einige der berühmten alten Gebäude anzusehen, und er habe telegrafiert, um ihnen mitzuteilen, dass sie die Sache zu Ende bringen und heiraten könnten, wenn Grace sofort abreiste. Zogen sich die Dinge über Jahre derart hin, kam es nicht selten vor, dass am Ende alles überstürzt erledigt wurde. In diesem Fall bliebe Mrs. Mavis natürlich gar nichts anderes übrig, als aufgeregt umherzuflattern. Die Überfahrt ihrer Tochter war gebucht worden, doch es erschien wirklich allzu furchtbar, dass sie ihre Reise allein, ohne Gefährtin oder Begleitung, antreten sollte, zumal es ihre erste Schiffsreise war. Sie könne sie nicht begleiten – Mr. Mavis sei zu krank: Sie habe ihn nicht einmal an die Küste mitbringen können.
    »Nun, Mrs. Nettlepoint reist mit demselben Schiff«, hatte Mrs. Allen gesagt, und sie hatte die Ansicht vertreten, dass es das Einfachste wäre, das Mädchen in ihre Obhut zu geben. Als Mrs. Mavis erwidert hatte, dass dasja alles schön und gut sei, sie jene Dame aber nicht kenne, hatte Mrs. Allen erklärt, dass dies nicht den geringsten Unterschied mache, da Mrs. Nettlepoint sicher zu jedem Freundschaftsdienst bereit sei. Es wäre wirklich ein Leichtes, sie kennenzulernen , falls dies das ganze Problem sei! Mrs. Mavis brauchte nur am nächsten Morgen, wenn sie ihre Tochter an Bord des Schiffs begleite, direkt auf sie zuzugehen (sie würde sie zusammen mit ihrer Gesellschaft an Deck sehen) und ihr klar und deutlich zu sagen, was sie wolle. Mrs. Nettlepoint habe selbst Töchter und hätte sicher Verständnis. Höchstwahrscheinlich würde sie sich auch nach der Ankunft noch gern ein wenig
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