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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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um Grace kümmern, die sich in einer so misslichen Lage befand und allein dem Gentleman entgegenreiste, mit dem sie verlobt war. Sie würde, einer guten Samariterin gleich, ihr helfen, sich vor der Hochzeit etwas umzusehen. Mr. Porterfield schien davon auszugehen, dass sie nicht lange zu warten brauchten, wenn sie erst einmal da wäre: Sie würden sofort alles beim amerikanischen Konsul erledigen. Mr. Allen hatte gesagt, es wäre vielleicht noch besser, Mrs. Nettlepoint vorher, noch am selben Tag, aufzusuchen, um ihr die Bitte vorzutragen: Dann würden sie nicht den Anschein erwecken, sie kurz vor ihrer Abreise zu überfallen. Sie (Mrs. Allen) werde sie selbst besuchen und ein Wort für sie einlegen, wenn sie vor Abfahrt ihres Zuges noch zehn Minuten erübrigen könne. Dass sie nicht erschienen sei, liege wohl daran, dass sie ihre zehnMinuten nicht hatte erübrigen können, aber sie habe ihnen das Gefühl vermittelt, trotzdem vorbeischauen zu müssen. Mrs. Mavis sei es lieber so, weil morgen auf dem Schiff solch ein Durcheinander herrschen werde. Sie glaube nicht, dass ihre Tochter eine Last bedeuten würde – ganz gewiss nicht. Es ginge ihr nur darum, dass sie jemanden hat, mit dem sie reden könne, und nicht abreist wie ein einfaches Dienstmädchen auf dem Weg zu einer Anstellung.
    »Ich verstehe, ich soll eine Art Brautjungfer spielen und sie in feste Hände übergeben«, sagte Mrs. Nettlepoint entgegenkommend. Wirklich zu jedem Freundschaftsdienst bereit, bewies sie bei diesem Anlass, dass es ziemlich unkompliziert war, sie kennenzulernen. Jeder weiß, dass es nichts Unangenehmeres gibt als eine aufgezwungene Verpflichtung auf hoher See, doch sie akzeptierte unbeirrt die Bürde, sich um die junge Dame zu kümmern, und erlaubte ihr, wie Mrs. Mavis es ausdrückte, sich anzuhängen. Offenkundig war sie von Natur aus geduldig, und die Art, wie sie auf die Geschichte ihrer Besucher reagierte, erinnerte mich aufs Neue daran – ich wurde immer wieder daran erinnert, wenn ich in meine Heimat zurückkehrte –, dass meine lieben Landsmänner zu dem Volk auf Erden gehören, das gegenseitige Gefälligkeiten für selbstverständlicher hält als jedes andere. Seit jeher hatten sie sich selbst helfen müssen und ziemlich großmütig zu lernen vergessen, dass es nicht das Gleiche ist,anderen zu helfen. In keinem Land gibt es weniger Förmlichkeit und mehr Gegenseitigkeit.
    Zweifellos war es nichts Außergewöhnliches, dass die Damen aus der Merrimac Avenue sich nicht aufdringlich vorkamen: Erstaunlich war hingegen, dass Mrs. Nettlepoint augenscheinlich keinerlei Verdacht in diese Richtung hegte. Allerdings hätte sie es unter allen Umständen für unmenschlich gehalten, sich dergleichen anmerken zu lassen – obwohl ich erkennen konnte, dass sie sich insgeheim über all das amüsierte, was die Gesprächigere der beiden Pilgerinnen aus South End für selbstverständlich erachtete. Ich weiß nicht recht, ob die Haltung der jüngeren Besucherin zum Verdienst der Gutmütigkeit beitrug oder nicht. Mr. Porterfields Verlobte nahm an den Erläuterungen nicht teil, sprach selten, saß da und blickte auf die Back Bay und die Lichter der langen Brücke. Sie lehnte die Limonade und die anderen Mischgetränke ab, die ich ihr auf Mrs. Nettlepoints Bitte hin anbot, während ihre Mutter allem herzhaft zusprach, und es kam mir in den Sinn – denn ich hatte ebenso freimütig ein oder zwei Gläser geleert, in denen Eiswürfel klimperten –, dass Mr. Jasper lieber rasch nach Hause eilen sollte, wollte er diesen Luxus noch genießen.
    Wirkte die Zurückhaltung der jungen Frau unterdessen unhöflich, oder war es in ihrer Lage nur natürlich, dass sie keinen Schwall von Komplimenten zur Verfügung hatte? Ich merkte, dass Mrs. Nettlepoint sie häufig ansah, undMiss Mavis war, wenn auch reserviert, gewiss interessant. Das Kerzenlicht ließ mich erkennen, dass sie zwar nicht in der ersten Blüte ihrer Jugend stand, aber immer noch frisch und hübsch aussah. Ihre Augen und ihr Haar waren dunkel, ihr Gesicht blass, und sie hielt ihr Haupt erhoben, als seien die dicken Haarbänder und alles, was sie sonst noch an Kopfschmuck trug, Zierrat, dessen sie sich nicht schämte. War ihre Mutter vorzüglich und gewöhnlich, so war sie nicht gewöhnlich – zumindest nicht auf offenkundige Weise – und vielleicht auch nicht vorzüglich. Auf jeden Fall wäre sie – dem Eindruck nach – kein langweiliger Ballast, was stets ein Vorzug war, wenn eine Person sich
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