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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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Sitzbank eine genügend breite Nische für ihn zu schaffen), und plötzlich rufen die lustigen Brüder, draußen fl iege ein Esel vorbei, und er läuft hin, um zu gucken, während die Witzbolde sich kaputtlachen (man weiß ja, die Bettelmönche sind schlichten Gemütes). Aber dann sagt er seelenruhig, es sei ihm wahrscheinlicher vorgekom-men, daß ein Esel fl iegen könne, als daß ein Mönch lüge, und alle schauen betreten drein.
    Und dann wird dieser »stumme Ochse«, wie ihn die Mitschüler nannten, ein berühmter und von seinen Anhängern hochverehrter Professor, und eines Tages geht er mit seinen Studenten in die Hügel spazieren und schaut auf Paris hinunter, und sie fragen ihn, ob er gern der Herr einer so großen und schönen Stadt wäre, und er antwortet, daß er viel lieber den Text der Homilien des Sankt Chrysostomos hätte. Doch wenn ihm ein ideologischer Gegner zu sehr auf die Füße tritt, kann er zur Furie werden und in seinem Latein, das scheinbar so wenig besagt, weil man alles versteht und die Verben immer genau da sind, wo sie ein Italiener erwartet, in wüste Beschimpfungen und Sarkasmen ausbrechen, daß es klingt, als geißelte Marx den Herrn Szeliga.
    War er ein Friedensbringer, war er ein Engel? War er ge-schlechtslos? Als seine leiblichen Brüder ihn daran hindern wollten, zu den Dominikanern zu gehen (denn damals ging man als jüngster Sohn aus guter Familie zu den Benediktinern, die waren standesgemäß; zu den Bettelbrüdern gehen war ungefähr so, wie wenn man heute in eine Maoistenkommune geht oder nach Sizilien, um mit Danilo Dolci zu arbeiten), fi ngen sie ihn auf dem Weg nach Paris ab und schlossen ihn auf der Familienburg ein; und um ihn von seinen Grillen abzubringen und zu lehren, ein richtiger Abt zu werden, wie sich’s gehörte, schickten sie ihm ein nacktes Mädchen in seine Zelle. Aber Thomas griff sich ein brennendes Holzscheit und verfolgte die Schöne in der klaren Absicht, ihr das Hinterteil zu versengen. Also von Sex wirklich keine Spur? Ich weiß nicht, immerhin brachte die Sache ihn so durcheinander, daß er von da an – und das erzählt ein gewisser Bernardus Guidonis – »Gespräche mit Frauen tunlichst vermied, als wären sie Schlangen«.
    Auf jeden Fall war dieser Mann ein Kämpfer. Kühn und
    klarsichtig faßte er einen Plan, führte ihn zielstrebig durch und gewann. Sehen wir uns einmal an, auf welchem Schlachtfeld er kämpfte, worum es ging und was er erreichte. Als Thomas anno 1225 geboren wird, ist es fünfzig Jahre her, daß die lom-bardischen Städte die Schlacht von Legnano gegen das Reich gewannen. Seit zehn Jahren hat England die Magna Charta. In Frankreich ist gerade die Herrschaft Philipp Augusts zu Ende gegangen. Das Reich liegt in Agonie. Fünf Jahre später gründen die See- und Handelsstädte des Nordens die Hanse. Die fl orentinische Wirtschaft fl oriert, bald wird der Goldfl orin ausgegeben, Fibonacci hat die doppelte Buchführung schon erfunden. Seit einem Jahrhundert blühen die Medizinschule von Salerno und die Rechtsschule von Bologna. Die Kreuzzüge sind in fortge-schrittenem Stadium. Mit anderen Worten, die Kontakte zum Orient sind in voller Entwicklung. Andererseits faszinieren die Araber in Spanien die christliche Welt mit ihren Entdeckungen in Naturwissenschaft und Philosophie. Die Technik erlebt einen mächtigen Aufschwung, verändert hat sich die Art und Weise, wie man die Pferde beschlägt, die Mühlen betreibt, die Schiffe steuert, die Zugtiere vor die Karren und Pfl üge spannt.
    Nationalmonarchien im Norden und freie Stadtrepubliken im Süden. Kurzum, dies ist nicht mehr Mittelalter, jedenfalls nicht, wie man es gemeinhin versteht. Zugespitzt könnte man sagen: Wenn nicht eben noch das wäre, was Thomas zusammenzubrauen sich anschickt, wäre es schon Renaissance. Doch um Renaissance zu werden, braucht es genau noch das, was Thomas zusammenzubrauen sich anschickt.
    Europa ist im Begriff, sich eine Kultur zu geben, die seine politische und ökonomische Vielfalt spiegelt, zwar noch unter dem paternalistischen Regiment der Kirche, das niemand in Frage stellt, aber offen für ein neues Bewußtsein von der Natur, der konkreten Wirklichkeit und der menschlichen Individualität. Die Organisations- und Produktionsprozesse rationalisieren sich, man braucht Techniken der Vernunft.
    Als Thomas geboren wird, praktiziert man die Techniken der Vernunft schon seit einem Jahrhundert. In Paris, an der Fakultät der artes liberales, werden noch
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