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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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irgendwie.
    Der erste Zerfall des Konsens könnte eintreten, wenn eine Gruppe von Jugendlichen beschließt, jeden Abend ein Fest mit Böllerschüssen und Papierdrachen zu veranstalten. Als Kraftakt könnte so eine Aktion vielleicht den Kontrollgang oder die Flucht der Gangster behindern, aber in diesem Sinne ist sie nur minimal.
    Als Keim zum Widerstand gegen die Macht erzeugt sie jedoch ein Moment von Selbstvertrauen, das den von der Angst diktierten Konsens allmählich ersetzt. Das Resultat kann nicht unmittelbar sein, und vor allem wird es nie ein Resultat geben, wenn nicht andere, periphere Haltungen mit dem Fest korrespondieren, andere Ausdrucksweisen des »Ich mache nicht mehr mit!«. In unserem Film könnte es die mutige Tat des Lokalreporters sein. Aber die Sache könnte auch schiefgehen. Die Taktiken müßten sofort widerrufen werden, falls es dem Racket-System gelingt, sie in die lokale Folklore zu integrieren … Stoppen wir hier die Allegorie, die uns, als Film, zu einem Happy-End zwingen würde.
    Ich weiß nicht, ob dieses Papierdrachenfest eine Allegorie für die Literatur nach Barthes ist oder ob die Literatur nach Barthes und dieses Fest Allegorien für Foucaults Krise der Machtsysteme sind. Auch weil sich hier ein neuer Zweifel erhebt: Bis zu welchem Punkt gehorcht die von Barthes beschriebene Sprache Mechanismen, die den von Foucault beschriebenen Machtsystemen homolog sind?
    Nehmen wir eine Sprache als ein System von Regeln: nicht nur grammatikalischen, sondern auch solchen, die man heute pragmatische nennt; zum Beispiel die Konversationsregel, daß man auf eine Frage in »pertinenter« Weise antwortet und daß, wer auf »impertinente« Weise antwortet, je nachdem als ungezogen, dumm oder Provokateur beurteilt wird (oder als einer, der etwas zu verbergen hat). Die Literatur, die mit der Sprache spielt, um sie zu überlisten, präsentiert sich als eine Tätigkeit, die diese Regeln zersetzt und durch andere ersetzt: durch provisorische, gültig nur im Rahmen eines bestimmten Diskurses und einer bestimmten Strömung; und gültig vor allem im literarischen Laboratorium.
    Mit anderen Worten, Ionesco überlistet die Sprache, indem er seine Personen so reden läßt wie in der Kahlen Sängerin. Wenn aber im sozialen Verhältnis alle so reden würden wie die Kahle Sängerin, würde die Gesellschaft zerfallen. Und das wäre dann, wohlgemerkt, keine sprachliche Revolution, denn Revolution impliziert Umwälzung der Machtverhältnisse, und eine Welt, die wie bei Ionesco spräche, würde nichts umwälzen, sondern eine Art n -Stufe (als Gegensatz zur Nullstufe, eine indefi nite Zahl) des Verhaltens etablieren. Es wäre nicht einmal mehr möglich, das Brot beim Bäcker zu kaufen.
    Wie verteidigt sich nun die Sprache gegen diese Gefahr?
    Barthes sagt es selbst: Indem sie die Regelverletzung durch Wiederherstellung einer Machtsituation absorbiert (das Anakoluth des Künstlers wird allgemeine Norm). Und die Gesellschaft verteidigt die Sprache, indem sie die Literatur, die die Sprache in Frage stellt, an gesonderten Orten zelebriert. So kommt es in der Sprache nie zu einer Revolution; denn entweder ist es nur eine fi ktive Revolution auf der Bühne, wo alles erlaubt ist, aber hinterher geht man nach Hause und redet wieder normal; oder es ist eine kontinuierliche infi nitesimale Reformbewegung. Ästhetizismus ist der Glaube, daß die Kunst Leben sei und das Leben Kunst.
    Eine Verwechslung der Zonen. Durch Selbsttäuschung.
    Mithin ist die Sprache kein Szenario der Macht im Sinne Foucaults. Gut. Aber wieso glaubten wir dann, so klare Homologien zwischen Sprach- und Machtapparaten zu fi nden (und zu meinen, das Wissen, von dem eine Macht sich nährt, sei durch sprachliche Mittel erzeugt)?
    Hier erhebt sich ein Zweifel. Vielleicht ist es falsch zu meinen, die Sprache sei von der Macht verschieden, weil die Macht ein Ort für Revolutionen ist, was die Sprache nie sein kann. Vielleicht ist die Macht homolog zur Sprache, weil sie, wie Foucault sie beschrieben hat, nie ein Ort für Revolutionen sein kann. Mit anderen Worten, in der Macht gibt es nie einen Unterschied zwischen Reform und Revolution, weil Revolution der Moment ist, in dem ein langer und langsamer Umstrukturierungsprozeß schließlich das erleidet, was René Thom eine Katastrophe nennt, eine plötzliche Wende – aber im gleichen Sinne, in dem eine Zunahme seismischer Strömungen zu einem Erdbeben führt.
    Zum Durchbruch von etwas, das sich schon lange vorher
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