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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass
Autoren: Rachida Lamrabet
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hatte ein Waisenmädchen in seine Familie aufgenommen, das er wie seine eigene Tochter großgezogen hatte. Sie wurde später Abd el-Krims Frau, also waren sie eigentlich alle miteinander verbandelt. Angeheiratete Familie. Und das war bis heute so geblieben. Boulifs Tochter war mit einem Beni Touzine verheiratet.
    Bei den Beni Urriaguel hatte er die Schönheit der Frauen kennengelernt. Eines Abends war er Zuschauer bei einer Hochzeitsfeier gewesen. Männer und Jungen hatten draußen noch zusammengehockt, überall brannten kleine Feuer, ab und zu auch mal eine Gaslaterne. Der Abend ging in die Nacht über, und der Gesang der Frauen in den Häusern übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn aus. Wahnsinnig gern hätte er sich hineingeschlichen, um einen Schimmer der Geschöpfe dort drinnen zu erhaschen, die diese bezaubernden Klänge produzierten.
    Und noch bevor er sich diesen Gedanken aus dem Kopf geschlagen hatte, sah er, wie sie eine nach der anderen aus dem Haus heraustraten. Sie trugen wunderschöne glitzernde Gewänder und hatten dazu Silberschmuck angelegt. Schwarzes, wallendes Haar fiel ihnen bis zur schlanken Taille hinab. Mit kleinen, zierlichen Schritten und leicht geneigtem Kopf liefen sie, keusch lächelnd, zu dem Halbkreis, in dem die Männer saßen, ohne dabei ihren Gesang zu unterbrechen.
    Ihm stockte der Atem, und seine Augen versuchten alles auf einmal zu erhaschen, aus Furcht, es könnte ihm etwas entgehen. Die Männer schien das ganze Geschehen nicht aus der Fassung zu bringen. Einige unter ihnen begleiteten auf Trommeln den Rhythmus, den die Frauen vorgaben. Trotz seiner jungen Jahre spürte er, dass die Atmosphäre sich wandelte. Eine mysteriöse Spannung schwebte in der Luft. Jedes Wort, das von nun an gesagt wurde, hatte eine verborgene Botschaft, und jede ausgeführte Handlung blieb nicht ohne Folgen für die nächsten Generationen. Ein Mädchen fing an zu tanzen. Die anderen hatten sich in zwei Gruppen aufgestellt. Die eine Gruppe sang einen Vers, der mit einer Replik der anderen Gruppe beantwortet wurde. So ging das fast die ganze Nacht hindurch. Noch nie zuvor hatte er etwas so atemberaubend Schönes gesehen. Als er zu Hause etwas zusammenhangslos von dem berichtete, was er alles gesehen hatte, erntete er Hohngelächter und Unglauben.
    »Das hast du alles nur geträumt, mein Junge. Die viele Lauferei in der Sonne bekommt dir nicht.«
    »Aber warum tanzen bei uns die Mädchen auf einer Hochzeitsfeier nicht auch zwischen den Männern herum, Mutter?«
    Bereits seit Tagen löcherte er seine Mutter mit albernen Fragen über tanzende Mädchen, doch diese letzte Frage war offenbar zu viel gewesen. Mit dem Pantoffel in der Hand scheuchte seine Mutter ihn aus dem Haus hinaus.
    »Hol Wasser und halt mich nicht von der Arbeit ab!«
    Eine ganze Woche durfte er das Dorf nicht verlassen. Seine Mutter wollte nicht, dass er zu Leuten ging, die offenbar nicht wussten, was Schande und Scham waren. Als sie keine Eier mehr im Haus hatte, schickte sie ihn dann doch los. Und er schwebte über den Weg, getragen von Teilen der Refrains, die er in seinem Erinnerungsschatz bewahrte.
    Von dieser Tradition war inzwischen kaum noch etwas übrig. Boulif fand das richtig so. Er hatte sich immer dem widersetzt, was er als die Überreste der dschahiliyya , der Epoche vor dem Islam, nannte. Leicht belustigt stellte er fest, dass Boulifs Widerstand erst im fortgeschrittenen Alter auftrat, zu einem Zeitpunkt, als sowohl seine eigene Hochzeit als auch die seiner Freunde bereits zur fernen Vergangenheit zählten, und damals wurden sie nach Art der Epoche »vor dem Islam« gefeiert. Das konnte ihm niemand nehmen. Und Gott vergab den Reuevollen.
    Boulif schlief tief und fest. Er war erschöpft. Sie hatten gerade Paris hinter sich. Mit Gottes Willen würden sie in ein paar Stunden ankommen. Heute Morgen hatte er mit seiner Frau telefoniert. Es war alles in Ordnung, er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Er überlegte, wie lange er es diesmal aushalten würde. Vielleicht sollte er sich eine Beschäftigung suchen. Einen Schrebergarten pachten. Oder noch einmal versuchen, seine Frau davon zu überzeugen, gemeinsam mit ihm zurückzukehren, für immer. Einen Versuch war es wert. Vielleicht musste er es etwas geschickter anstellen. Er musste an die vergilbte Ansichtskarte denken, die eine seiner Töchter geschickt hatte, als sie in Marokko war. Ein altes Hutzelweib holte Brot aus einem großen Tonofen, der draußen stand. Neben
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