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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass
Autoren: Rachida Lamrabet
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anhörte.
    Er merkte, dass die Kinder vollkommen verängstigt waren, aber er wollte ihnen ordentlich einbläuen, dass es nicht anging, dass die Polizei wegen irgendwelchem Unfug bei ihm vor der Tür stand, den die Kinder leichtsinnig ausgeheckt hatten. Und deswegen bestrafte er sie gnadenlos. Er hörte sich zwar ihre Erzählungen an, aber er verbiss sich in seine Wut und redete sich ein, dass es keine mildernden Umstände für seine Jungen gab. Immerhin gehörte dieses Land den Belgiern.
    Ihm wurde bewusst, dass er damals eigenhändig seinem Gerechtigkeitsideal, dem er immer nachgestrebt hatte, Risse zugefügt hatte. Er wollte alles richtig machen, doch aus irgendeinem Grund gelang ihm das nicht. Es war noch nie vorgekommen, dass einer seiner beiden Jungen die Stimme gegen ihn erhoben oder sich gewehrt hatte, wenn er sie schlug. Doch er wusste, was sie dachten.
    Ihren Augen war es anzusehen, dass sie Tausende Kilometer weit von ihm entfernt waren, und er wusste, dass nichts und niemand auf der Welt ihm helfen konnte, diese Distanz zu überbrücken. Sie hörten einander nicht mehr, schon lange sprachen sie nicht mehr dieselbe Sprache. Auf die Dauer wurde er immer verbitterter, und sie kapselten sich immer mehr von ihm ab, damit seine Worte sie nicht mehr erreichten. Sie sahen nur einen enttäuschten Vater und dachten sich: Na und?
    »Wo ist euer Stolz geblieben? Wo sind eure Träume?«
    Er rief es, er fragte es leise, er dachte und träumte es. Manchmal blieb es ihm im Halse stecken und hinderte ihn zu atmen. Aber er erhielt keine Antwort. Sie hatten ihre Gesichter von ihm abgewendet.
    »Sieht so etwa der Respekt aus, den euer Vater verdient? Soll ich mich dafür abgerackert haben? Hab ich euch nicht alles gegeben? Sogar mein letztes Hemd würde ich für euch verkaufen.«
    Mit jeder verzweifelten Frage drifteten sie weiter von ihm ab.
    Weiterfahren. Nicht anhalten, immer weiter. Denn Stillstand bedeutete, von den unwiderruflichen Tatsachen überwältigt zu werden. Stillstand bedeutete ein langsames Ertrinken in der Ohnmacht. Solange er sich noch weiter zwischen zwei Orten bewegen konnte. Zwischen zwei Orten, an denen er schon lange nicht mehr fand, was er suchte, und wo er auch nie finden würde, was er suchte.
    Er versuchte sich an den Moment zu erinnern, der dieses ziellose Dasein eingeläutet hatte, doch er konnte sich nicht daran erinnern, ab wann er all die vielen Unvollkommenheiten in seinem Leben als Beweis für einen irreparabel verpfuschten Lebenslauf erkannt hatte. Er war doch immer ein Mann gewesen, der genau gewusst hatte, was er wollte. Er hatte sich nie mit Ungerechtigkeit, Hunger oder Aussichtslosigkeit abfinden können. Auch nicht mit der sicheren Prädestination zur Armut, zur Immobilität. Und deswegen ging er fort.
    Als kleiner Junge war er kilometerweit durch die Berge zu Dörfern gewandert, wo er für einen halben Sack Mehl und ein Dutzend Eier Schafe und Ziegen gehütet hatte. Es war nicht so sehr die Belohnung, die ihn gelockt hatte, sondern vielmehr der Drang, die große Welt außerhalb seiner kleinen Welt zu entdecken. Welche Möglichkeiten und Chancen sie bot, dort in den Orten, wo die anderen lebten.
    Einen Tagesmarsch dauerte der Weg von seinem Dorf, von Beni Touzine, bis nach Beni Urriaguel. In seinen Augen befanden sich Welten zwischen ihnen und denen dort. Schon allein ihre Sprache, sogar das Tamazight wurde anders ausgesprochen. Dort herrschten andere Auffassungen und andere Gewohnheiten. Doch auch sie waren imazighen , genau wie er.
    Ihn verwirrten die Unterschiede nicht. Im Gegenteil, für ihn hatte ihre melodische, singende Aussprache etwas Lustiges, und schon bald beherrschte auch er sie. Weniger behagte ihm ihr ewiges Geprahle über Abd el-Krim, den Befreiungshelden des Rif. Die Beni Urriaguel taten gerade so, als hätten sie ein Patent auf diesen Mann, nur weil auch er zufällig ein Beni Urriaguel war. Sie meinten, sie könnten so auch gleich den ganzen Ruhm für den Befreiungskrieg des Rif mit einheimsen. Zu seinen besten Freunden zählten Beni Urriaguel, aber ihre überzogenen Ansprüche konnten ihn noch immer in Rage versetzen, und manchmal führte es auch zu erhitzten Diskussionen. Als er noch jung war, endeten sie häufig in Prügeleien, vor allem wenn einer zu behaupten wagte, die Beni Touzine seien Feiglinge. Reine Geschichtsklitterung, fand er. Besonders, wenn man bedachte, dass Abd el-Krim mit einer entfernten Tante von ihm verheiratet gewesen war.
    Sein Urgroßvater
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