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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland
Autoren: Germaine de Staël
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Enthusiasmus und Charakter unterscheiden sich sehr. Wählen muß man sein Ziel aus Enthusiasmus; darauf losgehen aber aus Charakter. Der Gedanke ist nichts ohne Enthusiasmus; nichts die Handlung ohne Charakter. Für die literarischen Nationen ist der Enthusiasmus alles; der Charakter aber für die handelnden. Freie Nationen bedürfen des einen und des anderen.
    Die Selbstheit spricht unaufhörlich und mit Wohlgefallen über die Gefahren des Enthusiasmus, und diese vorgebliche Furcht ist eine wahre Verlachung. Denn wenn die Gewandten dieser Welt aufrichtig seyn wollten, so würden sie eingestehen, daß ihnen nichts lieber ist, als mit Personen zu thun zu haben, für welche so manche Mittel ganz unmöglich sind, und die so gern auf das verzichten, was die meisten Menschen beschäftigt.
    Diese Stimmung des Gemüths hat bei aller Sanftheit Stärke, und wer sie empfindet, schöpft daraus eine edle Standhaftigkeit. Die Stürme der Leidenschaften schweigen, die Freuden der Eigenliebe welken dahin; nur der Enthusiasmns ist unerschütterlich. Das Gemüth selbst würde unter der Last des physischen Daseyns erliegen, wenn nicht etwas Stolzes und Beseeltes das gemeine Uebergewicht der Selbstheit schwächte. Diese moralische Würde, welcher nichts beikommen kann, ist in dem Geschenke des Daseyns das Bewundernswertheste. Um ihrentwillen ist es, selbst unter den herbsten Schmerzen, noch immer schön, gelebt zu haben, wie es schön seyn würde, zu sterben.
    Untersuchen wir jetzt den Einfluß des Enthusiasmus auf die Aufklärung und auf die Glückseligkeit. Die letzten Betrachtungen werden den Gedankenlauf beendigen, zu welchem die verschiedenen Gegenstände, welche ich durchgehen mußte, mich geleitet haben.
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Eilftes Capitel. Von dem Einfluß des Enthusiasmus auf die Aufklärung.
    Dies Capitel ist in einiger Hinsicht das Hauptcapitel meines ganzen Werks; denn da der Enthusiasmus die unterscheidende Eigenschaft der deutschen Nation ist, so kann man aus dem Einfluß, welcher er auf die Aufklärung ausübt, über die Fortschritte des menschlichen Geistes in Deutschland urtheilen. Der Enthusiasmus leiht dem Unsichtbaren Leben, und dem, was nicht unmittelbar auf unser Wohlseyn in dieser Welt abzweckt, Interesse. Es giebt also kein Gefühl, welches zur Auffindung abstracter Wahrheiten mehr geeignet wäre. Auch werden diese in Deutschland mit bemerkenswerther Liebe und Rechtlichkeit angebaut.
    Die Philosophen, welche der Enthusiasmus begeistert, sind vielleicht von allen die, welche in ihre Arbeiten die meiste Genauigkeit und Geduld bringen; zu gleicher Zeit die, die am wenigsten glänzen wollen. Um ihrer selbst willen lieben sie die Wissenschaft, und rechnen sich für nichts, sobald von dem Gegenstande ihrer Verehrung die Rede ist. Die physische Natur verfolgt auf eine unveränderliche Weise ihre Bahn durch die Zerstörung der Individuen; der Gedanke des Menschen nimmt einen erhabenen Charakter an, wenn er dahin gelangt, sich selbst aus einem universellen Gesichtspunkte zu betrachten. Schweigend dient alsdann der Mensch zu den Triumphen der Wahrheit, und die Wahrheit ist wie die Natur: eine Kraft, die nur in fortschreitender und regelmäßiger Entwickelung wirkt.
    Mit Wahrheit kann man sagen, daß der Enthusiasmus zu dem System-Geiste führt. Hängt man sehr an seinen Ideen, so möchte man Alles an dieselben anknüpfen; aber im Allgemeinen ist es leichter, mit aufrichtigen Meinungen, als mit solchen zu thun zu haben, welche die Eitelkeit angenommen hat. Hätte man in den gesellschaftlichen Verhältnissen immer nur mit dem zu schaffen, was die Menschen wirklich denken, so würde man sich leicht verstehen können. Nur das, was sie zu denken sich den Anschein geben, führt die Zwietracht herbei.
    Vielmals hat man den Enthusiasmus beschuldigt, daß er in Irrthum führe. Aber ein oberflächliches Interesse betrügt weit mehr; denn zum Eindringen in das Wesen der Dinge bedarf es eines Antriebs, der uns aufgelegt macht, uns eifrig damit zu beschäftigen. Faßt man außerdem das menschliche Geschick allgemeiner auf: so glaube ich behaupten zu können, daß wir dem Wahren nur durch Erhebung des Gemüths begegnen. Alles, was darauf abzweckt, uns herabzusetzen, ist Lüge, und, was man auch dagegen sagen möge, nur auf Seiten gemeiner Gesinnung ist der Irrthum.
    Der Enthusiasmus — ich wiederhole es — hat mit dem Fanatismus nichts gemein und kann nicht, wie dieser, in die Irre führen. Der Enthusiasmus ist duldsam, nicht
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