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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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hielt auch Adorno seine Vorlesungen, bevor ihn der Aufruhr verscheuchte, hier sprach Ingeborg Bachmann, die erste Poetikdozentin, im Dezember 1959. Adorno hatte von Anbeginn zu den Befürwortern der Stiftungsgastdozentur gehört, welche die Frankfurter Studenten mit den brennenden Fragen zeitgenössischen Schreibens bekannt machen sollte. Für derlei war die an der Universität betriebene Germanistik damals offenbar nicht zuständig.
    Nach einem halben Jahrhundert Poetikvorlesung wurde das Hörsaalgebäude und wird nach und nach der ganze Campus in Bockenheim, auf dem die 1914 gegründete Universität im Lauf der Jahre allerlei architektonischen Wildwuchs hervorgetrieben hatte, aufgegeben. Im neuen Hörsaalgebäude des Westend-Campus hinter dem einstigen Verwaltungsgebäude der IG-Farben, das Hans Poelzig Ende der Zwanzigerjahre errichtet hatte, trat am 2. Dezember 2009 Durs Grünbein an das Pult, welches wir als das Adorno-Katheder zu bezeichnen pflegten. Es war die Festrede zur halben Centenarfeier. In dem neuen, großen, hellen Amphitheater begrüßte er sein Publikum mit den Worten »Willkommen in der Eissporthalle!« – ein ironischer Gruß an die gediegene Prächtigkeit der neuen Lokalität. Ihm folgte im Sommer darauf Navid Kermani. Daß wir unser Poetik-Katheder mit dem Namen Adornos zu adeln pflegen, hat seinen guten Grund. Es ruft die Vergangenheit eines Denkens herauf, in dem kritische Theorie und ästhetische Praxis nicht zu trennen sind. Unseren »Poetologen« (so pflegte Kermani sich selber gern zu titulieren) war das, wenn ich recht sehe, in der Regel sehr wohl bewußt.
    Ironie aber war auch im Spiel, als Kermani behauptete, mit dem Hinweis auf das Adorno-Pult eingeschüchtert zu sein. Denn natürlich, wir wollten ihn damit stimulieren, ihn dazu verführen, aus der Schule zu plaudern; er hat sich nicht verschrecken lassen. Im Gegenteil, die fünf Vorlesungen gerieten ihm zu einem poetischen Spektakel und Denkzirkus, den keiner vergessen wird, der dabei war. Die Schriftfassung, die wir jetzt lesen, erhält dieses theatralische Moment besser, als ich damals gedacht hätte, als noch keine Rede von einer Veröffentlichung in Buchform war. Das liegt auch daran, daß unser Poetologe die grotesken Mißgeschicke, die ihm der prachtvolle Hörsaal bescherte, im Text fruchtbar zu machen versuchte, indem er in der jeweils folgenden Woche darauf zu sprechen kam. Grünbeins, seines Vorgängers, Pech wiederholte sich gottseidank nicht. Vor dessen Vorlesung hatte sich in dem damals ganz neuen, unerprobten Saal die immense von der Decke herabhängende Lautsprecher-Box gegen die Stirnwand des Saals gedreht, so daß das gesprochene Wort in einen qualvoll lärmigen Klangbrei sich verwandelte, bevor ein waghalsiger, schwindelfreier Saaltechniker halbwegs Abhilfe zu schaffen wußte. Aber Mißgeschicke gab es. So kam einmal aus dem Lautsprecher nicht Kermanis Text, sondern der einer BWL-Vorlesung im benachbarten Saal, oder plötzlich ging das Licht aus: für die Goethe-Universität, die sich ihrer auch technologischen Avanciertheit gerne rühmt, eine denkwürdige Peinlichkeit.
    Kermanis Poetik zielte, im Frühsommer 2010, auf einen Text, den niemand kennen konnte, auch der Dichter selber nicht. »Der Roman, den ich schreibe«, das uneinholbare work in progress , mußten wir uns beim Zuhören selber ausdenken. Bei der Lesung im Frankfurter Literaturhaus am Tag nach dem fünften und letzten Vorlesungstermin schien es sich um eine Familien-Saga mit Migrationshintergrund (wie man heute sagt) zu handeln: da machte sich vor hundert Jahren ein junger Mann aus Isfahan auf den Weg, um eine gewisse Bildung zu erlangen, der Großvater dessen, der viele Namen trägt, auch den eines Navid Kermani. Ich verhehle nicht, daß mich das damals ein wenig enttäuscht hat. Derlei, dachte ich, hat man schon oft gelesen. Doch was dann aus dem Roman wurde, machte alle Befürchtungen hinfällig. Die Welt kann es inzwischen wissen: es entstand etwas ganz anderes, ein kompliziertes, verwinkeltes Textcorpus, ein narratives Labyrinth.
    Was hat da der poetologische Diskurs zu suchen? In der ersten Vorlesung heißt es ganz apodiktisch: »Daß auch der Roman, den ich schreibe, ständig mitbedenkt, wie er geschrieben ist, hat zur Folge, daß das, was ich Ihnen heute und an den kommenden Dienstagen so Gott will vortrage, anders als bei meinen Vorgängern und Vorgängerinnen nicht gesondert als kleine Broschüre oder als Taschenbuch erscheinen wird, sondern
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