Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
daß ihm die Ausgabe niemals gelingen wird, und beginnt dennoch mit der Arbeit, die bis heute niemandem gelang. Wenige Tage später erblindet er vollends. Als erkläre er, warum der Roman federleicht wirkt, obwohl er wieder, sogar ausschließlich vom Tod handelt und nichts am Leben und Sterben beschönigt, sagt in Selina der Romanschreiber:
     
    Selig ist, wer ich wie jetzo – nicht wie ich sonst, als ich noch die Ferne der Geisterwelt in umgekehrter Täuschung der Luftspieglung erblickte und das lebendige erquickende Wasserreich für Wüstensand ansah – sich seine Welt ganz mit der zweiten organisch verbunden und durchdrungen hat: die Wüste des Lebens zeigt ihm über den heißen Sandkörnern des Tags die kühlenden Sterne größer und blitzender jede Nacht. 49
     
    Der allerletzte Text, den Jean Paul verfaßt, wohl Ende Oktober oder Anfang November 1825, ist ein Vorwort zu seinem ersten, Fragment gebliebenen Roman für die geplante Gesamtausgabe. So oft er es angekündigt habe, könne er das Fragment der Unsichtbaren Loge doch nicht vollenden, weil dreißig Jahre später »die vorigen Begebenheiten, Verwicklungen und Empfindungen« nicht »des Fortsetzens wert« erschienen, und zwar prinzipiell nicht.
     
    Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht unterbrochen? Und wenn wirunsbeklagen, daß ein unvollendet gebliebener Roman gar nicht berichtet, was aus Kunzens zweiter Liebschaft und Elsens Verzweiflung darüber geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Landrichters und Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet hat – so tröste man sich damit, daß der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten. 50
     
    Die letzten überlieferten Worte, bevor Jean Paul am 14.November 1825 gegen 20 Uhr stirbt:
     
    Wir wollen’s gehen lassen. 51
     
    Ich werde seyn; ich frage nicht, was ich werde 52
     
    heißt es im Hyperion . Vielleicht kann man den Tod aus einer Haltung akzeptieren, die angesichts Gottes, des Universums oder der Übermacht des Zufalls das eigene Wollen aufgibt. Beinah zur selben Zeit, als Jean Paul im Sterben liegt, wohl im Oktober 1825, nicht weit entfernt schreibt Hölderlin aus seinem Tübinger Turm an die Mutter:
     
    Da mich die Vorhersehung hat so weit kommen lassen, so hoffe ich, daß ich mein Leben vielleicht ohne Gefahren und gänzliche Zweifel fortseze. 53
     
    Die Absätze, die in der zweiten Lebenshälfte Hölderlins entstehen, da alle Welt ihn für verrückt hielt, reißen mit, wo die Sprache aus dem Ruder läuft:
     
    Es ist eine Behauptung
    der Menschen,
    daß Vortrefflichkeit des innern
    Menschen eine interessante
    Behauptung wäre. Es ist der
    Überzeugung gemäß,
    daß Geistigkeit
    menschlicher Innerheit
    der Einrichtung
    der Welt tauglich
    wäre. 54
     
    Genauso wie die Aphorismen grenzen die Gedichte an Nonsens. »Sommer« heißen sie oder »Winter«, manchmal auch »Frühling« oder »Der Mensch«, und meist beginnen die Verse gleichsam im Greisenschritt mit »Es« oder mit »Wenn«: Es kommt der neue Tag aus fernen Höhn herunter, Wenn aus dem Leben kann ein Mensch sich finden. Ich denke, ich verstehe, bevor ich mich frage, was eigentlich gesagt worden ist, außer daß die Berge grünen oder die Tage vorbeigehen mit sanfter Lüfte Rauschen. Ich lese das Gedicht wieder und habe noch mehr Fragen. Also lese ich es ein drittes Mal, und erst allmählich geht mir auf, daß die Sätze gar keinen Sinn ergeben, jedenfalls keinen gewöhnlichen. Wie aus einem Automaten ausgespuckt wirken sie, wenige poetische Bilder und Satzvarianten in zunächst beliebig scheinenden Konstellationen, ja, wie von Gerhard Richters Zufallsgenerator erschaffen. Vielleicht weil nicht er dichtet, sondern von wem auch immer gedichtet wird, nennt er sich zum Schluß Skardanelli oder Buonarotti und beschimpft jeden, der ihn mit seinem richtigen Namen anredet:
     
    Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget,
    So ist’s, als wenn ein Tag sich Tagen unterscheidet,
    Daß ausgezeichnet sich der Mensch zum Reste neiget,
    Von der Natur getrennt und unbeneidet. 55
     
    Zur Lyrik des einst gepriesenen Schillers verhalten sich die Klapphornverse, in denen sich austauschbare Bilder unscharf aneinanderreihen, wie eine Aufnahme mit dem Handy zu einem amerikanischen Film, wie amerikanische Filme oft gar nicht mehr sind. Gerade in ihrem Wegwerfcharakter werden die Gedichte wirklich.
     
    [Isaak Dentler:] Gleich zwanzig vor.
     
    Die Zettel sind kein Abfall, wie die Germanistik
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher