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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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vereint sich mit Gott als der Natur und gewinnt eben in der Vernichtung – ästhetisch: im Verstummen – die Einheit in letzter Konsequenz als Ewiges zurück: »Es gibt kein Ich außer mir«, wie Sohrawardi im zwölften Jahrhundert das islamische Glaubensbekenntnis umformuliert. 40 Hölderlins Drama bezeichnet bis heute gültig den Vulkanrand, an dem Dichtung vom Ich spricht, ob John Coetzee, John Berger oder Istvan Eörsi, ob Wolfgang Hilbig, Rolf Dieter Brinkmann, Peter Kurzeck, Elfriede Jelinek, Ingo Schulze, Ruth Schweikert, Arnold Stadler und Navid Kermani, um nur diejenigen Selberlebensbeschreibungen unserer Jahre anzuführen, lesenswert oder nicht, die der Roman, den ich schreibe, bisher erwähnt.
     
    Er lebt? ja wohl! er lebt! er geht
    Im weiten Felde Nacht und Tag. Sein Dach
    Sind Wetterwolken und der Boden ist
    Sein Laager. Winde krausen ihm das Haar
    Und Regen träuft mit seinen Thränen ihm
    Vom Angesicht, und seine Kleider troknet
    Am heißen Mittag ihm die Sonne wieder,
    Wenn er im schattenlosen Sande geht.
    Gewohnte Pfade sucht er nicht; im Fels
    Bei denen, die von Beute sich ernähren,
    Die fremd, wie er, und allverdächtig sind,
    Da kehrt er ein, die wissen nichts vom Fluch,
    Die reichen ihm von ihrer rohen Speise,
    Daß er zur Wanderung die Glieder stärkt.
    So lebt er! weh! und das ist nicht gewiß! 41
     
    Am dichtesten an das mystische Erleben hat Hölderlin den künstlerischen Prozeß in einem Aufsatz herangeführt, dessen Titel von Meister Eckhart oder Baso Matsu stammen könnte: Das Werden im Vergehen : Der »sichere unaufhaltsame, kühne Act« besteht darin, daß
     
    jeder Punct in seiner Auflösung und Herstellung mit dem Totalgefühl der Auflösung und Herstellung unendlich verflochtner ist, und alles sich in Schmerz und Freude, in Streit und Frieden, in Bewegung und Ruhe, u. Gestalt u. Ungestalt unendlicher durchdringt, berühret, und angeht und so ein himmlisches Feuer statt irdischem wirkt. 42
     
    Auflösung und Herstellung, Schmerz und Freude, Streit und Friede, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Ungestalt, himmlisches statt irdisches Feuer – wahrscheinlich fände ich in dem Derwischorden, dem mein Großvater angehörte, und den Dichtungen, die er abends las, für jedes einzelne dieser Begriffspaare eine wörtliche Entsprechung. Ich fände sie überall, wo Mystiker die sichere unaufhaltsame und kühne Erfahrung in Worte gefaßt haben, vom eigenen Ich zurückzutreten, um darin das Allgemeine zu finden, sich ohne Intention in der Anschauung zu verlieren. Das Ich gilt, aber nicht mein Ich. Was Jean Paul empfand und Hölderlin besser beschrieb, ist nicht bloß ihr individueller, es ist ein allgemeiner oder idealer Moment innerhalb des poetischen Prozesses: ein Einzelner zu sein und doch das Ganze in sich zu tragen, nichts zu werden und dadurch Gott. »Mein Innerstes schaut ohne mein Herz«, wie Halladsch sagt. 43
    Genug! Allerspätestens um fünf nach halb acht muß Isaak Dentler zum Schauspielhaus rasen, und ich habe als Orientalist schon viel zu lang auf Analogien verwiesen und müßte spätestens jetzt differenzieren, zwischen den mystischen Traditionen selbst, die sich erheblich voneinander unterscheiden, ob nun Taoismus, Zen, Sufismus, Kabbala oder deutsche Innerlichkeit, ja innerhalb ein-und derselben Tradition so vielfältig sind, und dann natürlich noch deutlicher zwischen dem mystischen Erleben und der ästhetischen Produktion. Wenn schon . . . reicht nicht auch zwanzig vor acht?
     
    [Isaak Dentler:] Fünf nach halb!
     
    . . . wenn schon, würde auch keineswegs der Sufismus naheliegen, um ihn mit der Literatur in Beziehung zu setzen, noch weniger die christliche Mystik. Deutlichere Entsprechungen fänden sich in den Texten des Zen-Buddhismus, insofern sie stets auf die Praxis weisen, nicht zuletzt die künstlerische. Daß unter allen deutschsprachigen Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts gerade Heimito von Doderer die Kunst des Bogenschießens ...
     
    [Martin Rentzsch:] Jetzt wird’s interessant, auf einen Doderer hat Jean Paul hundert Jahre gewartet.
     
    ... daß gerade Heimito von Doderer die Kunst des Bogenschießens beherrschte – und das populäre Buch des Japanologen Eugen Herrigel kannte –, findet man in seinen Romanen bestätigt, die so unübersichtlich, haarsträubend konstruiert und überreich an Eindrücken sind wie die Romane Jean Pauls, wo sie sich selber schreiben.
     
    [Martin Rentzsch:] Isaak, mit dem Taxi sind es zum Theater höchstens zehn
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