Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
Minuten.
     
    [Isaak Dentler:] Martin, ich muß um acht auf der Bühne stehen.
     
    [Martin Rentzsch:] Aber laß ihn doch kurz noch über Heimito von Doderer sprechen, das ist wirklich spannend.
     
    [Isaak Dentler:] Vergiß Doderer, wir haben schon halb.
     
    Nein, nein, kein Doderer mehr, jetzt komme ich schnurstracks zum Ende.
     
    [Isaak Dentler:] So Gott will.
     
    In den späten Fragmenten, die Hölderlin wieder und wieder bearbeitete, spürt man beim Vortrag körperlich, wie etwas anderes, absichtslos Entstandenes in die Verse eindringt. Man spürt es an den rhythmischen Sprüngen, den syntaktischen Zumutungen, den dauernden Rissen innerhalb einer einzigen Gedankenkette, der Auflösung linearer Zusammenhänge logischer und psychologischer Art, der Verselbständigung der Bilder, die wie von selbst in die eine und andere Richtung sich entwickeln. Insofern er Literatur und eben nicht mystische Praxis ist, verwandelt sich der Text nicht Gott oder einer etwaigen höheren Ordnung an, wie sie der Zen-Meister spüren mag, wenn die Bogen-sehne ohne sein Zutun, ohne daß er es gewollt hätte, seinen Daumen durchschneidet. Literatur verwandelt sich der Welt an.
     
         Und nimmer ist dir
    Verborgen das Lächeln des Herrschers
    Bei Tage, wenn
    Es fieberhaft und angekettet das
    Lebendige scheinet oder auch
    Bei Nacht, wenn alles gemischt
    Ist ordnungslos und wiederkehrt
    Uralte Verwirrung. 44
     
    Unvollständigkeit, Unübersichtlichkeit, Unfaßbarkeit ist Jean Pauls Romanen daher genauso inhärent wie Hölderlins Gedichten, und inhärent ist gerade den bedeutendsten Werken, daß der Autor selbst sie als unvollkommen, unzureichend, unabgeschlossen wahrnimmt. Insofern sie dem Unendlichen eine materielle Gestalt geben, müssen sie endlich sein: Noch so viel mehr, so viel besser wäre es zu sagen, wie Hölderlin es empfunden zu haben schien, wenn man in der Frankfurter Ausgabe verfolgt, wie sich die einzelnen Gedichte und Gedichtfetzen auf den Blättern, die er ohne Unterlaß beschrieb, geradezu bildlich ineinander verschlingen, so daß auch der Herausgeber D. E. Sattler oft nur vermuten kann, welche Zeile zu welchem Text gehört. Nicht doch zwanzig vor acht?
     
    [Isaak Dentler:] Nein!
     
    Hölderlin selbst wird es manchmal nicht mehr gewußt haben und schon gar nicht damit gerechnet, daß zweihundert Jahre später Germanisten wie Archäologen Buchstabe für Buchstabe sichern, um die Bedeutung, manchmal auch nur den Wortlaut zu begreifen. »Denn ich schrieb nur meinen Sinn, wie ichs in der Tieffe verstund«, hatte er bei Jakob Böhme wahrscheinlich ebenfalls gelesen: »und machte darüber keine Erklärung, denn ich vermeinte nicht, daß es solte gelesen werden, ich wolts für mich behalten: sonst so ich gewust hätte, daß es sollte gelesen werden, so wollte ich klarer geschrieben haben.« 45 In diesem Sinne haben die Schriftarten, Siglen und kreuz und quer verlaufenden Buchstabenreihen der Frankfurter Ausgabe selbst ein Objektives, da sie an dem Moment des Ungenügens über die einzelnen Worte hinaus teilhaben lassen, wie es keine Leseausgabe tut. Jedes Werk auf Erden ist eine »geborne Ruine«, 46 als die Jean Paul Die unsichtbare Loge mir zum Trost bezeichnet, daß auch ich niemals zum Ende kommen werde mit dem Roman, den ich schreibe, aber, so Gott will, um fünf nach halb mit meiner Poetik. Jeder Traum ist ein Bruchstück und darin realistischer als die Ordnung unserer eigenen Kunstgärten:
     
    Findet auf diesem (von uns Erdball genannten) organischen Kügelchen , das mehr begraset als beblümet ist, die wenigen Blumen im Nebel, der um sie hängt – seid mit euren elysischen Träumen zufrieden und begehret ihre Erfüllung (d.h.Verknöcherung) nicht; denn auf der Erde ist ein erfüllter Traum bloß ein wiederholter. 47
     
    Am 11.September 1825, da er einen Verleger fragt, wieviel er für eine Gesamtausgabe zahlen würde, berichtet Jean Paul nebenher:
     
    Meine Selina wächset indeß [...] zur Reife gar auf. 300 Quartseiten sind schon ganz geschrieben. 48
     
    Anfang Oktober bricht die Todeskrankheit aus, »Brustwassersucht«, innerhalb von Tagen magert Jean Paul ab, am Unterleib und an den Füßen bilden sich Geschwülste. Die Angehörigen ahnen nichts Gutes, der Arzt blickt bedrückt. Am 21. Oktober gibt Jean Paul die Zusage für die Gesamtausgabe, sechzig Bände in einer Auflage von fünftausend Exemplaren für 35.000 Taler Honorar. Wie sein Zustand ist, beinah schon ganz erblindet, muß Jean Paul wissen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher