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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Hölderlin indes ist der Dichter radikal auf die Wahrnehmung reduziert, er tritt nicht als autonomer Autor auf, seine Texte gehören streng genommen nicht ihm selbst, er ist lediglich Empfangender, man könnte auch sagen: ist bloßer Berichterstatter. Es klang kokett, als Hertha Müller bei der Nachricht des Nobelpreises stammelte, nicht sie, sondern ihre Bücher seien ausgezeichnet worden, aber jeder ernsthafte Autor wird intuitiv gespürt haben, was sie meinte, nein: warum ausgerechnet dies ihre ersten Worte waren. In Hölderlins berühmtem Fragment »Wie wenn am Feiertage ...« heißt es:
     
    Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
    Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen
    Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand
    Zu fassen und dem Volk’ ins Lied
    Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.
    Denn sind nur reinen Herzens,
    Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände,
         Des Vaters Strahl, der reine, versengt es nicht
    Und tieferschüttert, die Leiden der Stärkeren
    Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen
    Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest. 32
     
    Zwar gebührt es den Dichtern, unter Gottes Gewitter zu stehen, denen Hölderlin mithin prophetenhafte Züge verleiht, doch wohlgemerkt mit entblößtem Haupte, wie Kinder, reinen Herzens und mitleidend. Alle vier Vorstellungen drücken die völlige Hingabe, das Aufgeben jeder Eigenheit, das Absehen auch von allem Erlernten aus, überdies kreuzestheologisch der Nachvollzug der Leiden. Unter Beibehaltung ihrer Begriffe faßt Hölderlin ästhetisch, was die christlich-mystischeTradition mit der Entblößung der Seele, ihrer Entwerdung in Gott und der Passion meint, deutet die religiöse Hingabe in die radikale Offenheit, also Willenlosigkeit des Dichters um. Die Ambivalenz dieses Vorgangs hebt Hölderlin schon in den nächsten Zeilen warnend hervor, mit denen das Gedicht abbricht:
     
    Doch weh mir! wenn von
     
    Und sag ich gleich,
     
    Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen,
    Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden
    Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich
    Das warnende Lied den Gelehrigen singe.
    Dort 33
     
    Die mystische Vereinigung, die in den poetischen Prozeß übertragen als Notwendigkeit erlebt wird – das Gedicht, der Roman schreibt sich selbst –, die Vereinigung ist aufgehoben, sobald sie ausgesprochen, auf das Gedicht, den Roman übertragen: sobald die Notwendigkeit erklärt wird. Entmythologisiert man Hölderlins Poetik, wäre sein Begriff von Autorenschaft und Werkcharakter moderner und zumal zukünftiger Literatur, die nicht mehr selbstverständlich einem Individuum zuzuordnen sein wird und ihre materielle Gestalt als Papier zwischen Buchdeckeln verliert, sogar angemessener als jene Autonomie der Schöpferischen, die sich heute in der zunehmenden Personalisierung selbst der seriösen Literaturkritik ausdrückt. In Hysterien wie in Deutschland zuletzt um die junge Helene Hegemann und die zwei Seiten, die sie abschrieb, bewahrt sich in den Feuilletons die Subjektvergötterung der Genieästhetik als ihre Karikatur.
    Auch Theodor W. Adorno, auf den ich gegen Ende der Poetikvorlesungen als einen Wegweiser auch meines Lebens doch wenigstens einmal verweisen möchte, auch Adorno, der dem Zufall mißtraute, wies diesem mit der Absichtslosigkeit dennoch einen Ort zu. Kunst, so schrieb er in der Ästhetischen Theorie , Kunst läßt dem Zufall Gerechtigkeit widerfahren durch jenes Tasten im Dunklen der Bahn ihrer Notwendigkeit. Je treuer sie ihr folgt, desto weniger ist sie durchsichtig.« 34 Hölderlins Tasten nachspürend, trägt die Frankfurter Ausgabe aus verschiedenen Blättern zahlreiche Varianten für den Schluß von »Wie wenn am Feiertage . . .« zusammen, die Neufassungen, Korrekturen und Zusätze oft neben oder zwischen anderen Gedichten geschrieben, die ihre Neufassungen und Zusätze wiederum auf anderen Blättern, die wiederum ... und so weiter bis sie nicht einmal für D.E. Sattler lesbar sind, der sich noch im zwanzigsten und letzten Band immer weiter korrigiert, die Ausgabe um immer neue Funde oder vielleicht auch Vermutungen ergänzt, wo dieses und jenes hinzugehören, was dieses und jenes heißen könnte. »Weh mir!« heißt es in allen Varianten, aber dann anders als vorhin zitiert zum Beispiel auch:
     
    Wenn von
    selbstgeschlagener Wunde das Herz mir blutet, und
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