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Turils Reise

Turils Reise

Titel: Turils Reise
Autoren: Michael Marcus Thurner
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wartete. Nach wenigen Sekunden verfärbte sich das kristalline Material, wurde weiß. Staub bröselte zu Boden. »Selenit«, sagte er nüchtern. »Gipskristalle von besonderer Reinheit.« Mit einem kräftigen Ruck brach er ein Stück des Steins ab und hielt es gegen das schwach glimmende Licht. Es war transparent; nur wenige Kratzspuren beeinträchtigten seine Perfektion. »Sehr interessant«, meinte er zum Fünkchen, »doch die Naturwunder dieser unterirdischen Welt interessieren mich nicht besonders. Ich möchte das Totenorakel kennenlernen.«

    »Geduld ist wohl nicht deine Stärke?«, fragte das Fünkchen provokant.
    »Ich bemühe mich, jene Zeitspanne, die mir zur Verfügung steht, so effizient wie möglich zu nützen. Es wäre schön, wenn du das Gleiche tun würdest.«
    Das Fünkchen glühte hellauf vor Zorn. Es überstrahlte das Licht der Wurzeln, blendete Turil für ein paar Augenblicke. »Hier entlang!«, sagte das kurzlebige Kunstwesen schließlich und drosselte seinen Energieausstoß wieder auf Normalmaß. Es führte ihn über einen schmalen, rutschigen Weg tiefer hinab in die Höhle. Die Kavernen waren natürlich entstanden, keine Frage, höchstwahrscheinlich durch Korrosion, wie Turil anhand der kalkhaltigen Ablagerungen allerorts vermutete. Die Domiendramer hatten nur wenige Spuren hinterlassen. Hier war ein Metallgitter zum Schutz vor Steinschlag angebracht worden, dort standen einige wenige Messgeräte, die Luftfeuchtigkeit und Temperatur überwachten. An einem dritten Ort befand sich eine Art Altar. Turil kniff die Augen zusammen und betrachtete die flache Deckplatte. Dunkle Flüssigkeit war darauf eingetrocknet und hatte den Fels um eine Nuance verfärbt. Möglicherweise hatte man hier vor langer Zeit in archaischen Ritualen Opfer dargebracht. Tiere oder Feinde - wer wusste das schon zu sagen?
    Turil wanderte an gewaltigen Basaltblöcken vorbei. Was anfänglich strukturiert und aufgeräumt gewirkt hatte, erwies sich nun als komplexes Labyrinth. Immer wieder musste er über Kristalle klettern, so hoch und so breit wie er selbst, und sich dabei des leuchtenden Wurzelwerks als Steighilfe bedienen. Der Boden war glitschig und feucht, die Kanten der Steine messerscharf.
    Turil blickte nach oben. Unbehagen befiel ihn. Genau
über ihm schwang der in den Leuchtwurzeln verfangene Riesenselenit in leichtem Windzug. Die Karakähen bewegten sich nicht.
    »Ein Gast?«, grollte plötzlich eine Stimme durch den Raum. »Heute? Jetzt? Welch angenehme Überraschung! Komm näher, näher, damit ich dich in Augenschein nehmen kann.«
    Turil zuckte zusammen. Sein erster Impuls war davonzulaufen, die Sicherheit der Oberfläche zu suchen. Doch er hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. Immerhin war er ein Totengräber, und nicht unbedingt einer der schlechtesten.
    Er sah sich nach dem Fünkchen um. Es hatte ein Stück hinter ihm Halt gemacht und bedeutete ihm nun mit hämischem Gesichtsausdruck, der Einladung des unbekannten Wesens Folge zu leisten.
    Turil dachte an Pramain den Götzlichen. An das Volk der Domiendramer, das durch den Tod seines Herrschers Erlösung und Neubeginn herbeisehnte. Dieser Ort hatte zweifelsohne etwas Mystisches an sich, und er war ein mehr oder weniger sorgfältig gehüteter Teil der hiesigen Kultur. Es war seine Pflicht zu lernen. Zu verstehen. Um seine Aufgabe so gut wie möglich zu erledigen. Also marschierte Turil weiter, und er ließ sich auch nicht vom lautstarken Gekreische und Gekrächze der Karakähen abhalten, die wie auf ein geheimes Kommando hin vom schwebenden Kristall abhoben und voranflogen.
     
    Riesige Augen starrten ihn an. Blau und kristallen waren sie, unergründlich wie das Wasser des Ozeans. Pupillen trieben darin, verengten und weiteten sich, rollten in erschreckender Weise durch einen Raum, den es nicht geben
durfte. Sie fokussierten Turil, ließen in ihm das Gefühl von Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit wachsen. Eines der Augen war von einem schmutziggrauen Schleier bedeckt. Dort, wo sich ein Gesicht befinden sollte, flatterten die Karakähen aufgeregt hin und her, hoch und nieder. Nur andeutungsweise ließ sich eine von feinsten Rissen durchzogene Struktur erahnen. Wie von einem Kristall, der in Myridaden Facetten zersplittert und in mühseliger Kleinarbeit wieder zusammengefügt worden war. Außer den schrecklichen Augen waren keine Sinnesorgane zu sehen.
    Wo war sein Fünkchen geblieben? Aus den Augenwinkeln sah Turil das kleine Geschöpf. Es hing wie eingefroren
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