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Turils Reise

Turils Reise

Titel: Turils Reise
Autoren: Michael Marcus Thurner
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aus refraktiven Bildern und Rechenprozessen entstanden war, so etwas wie Eigenbewusstsein oder Schamgefühl zuzugestehen?
    Nun, der Kahlsack nahm sich wie der überfüllte Musterkoffer eines Vertreters aus. Es gab meist nur wenige Exemplare einer Lebensform, dafür aber unglaublich viele Varianten und Spielarten. Humanes und Schwarmgeschöpfe waren, statistisch gesehen, am häufigsten vertreten. Doch abseits dieser Hauptstämme existierte eine Vielfalt, die kaum zu durchschauen war. Die Refraktos passten ebenso wenig in Schemata wie zum Beispiel die Choronisten, die Zerebrären oder die zu einem Kollektivbewusstsein verschmolzenen Nanobots.
    Der alte Mann wuchs mit einem Mal auf das dreifache seiner ursprünglichen Größe an. »Du greifst unter keinen Umständen meine Zentraleinheit an!«, brüllte er. Er stieß Beleidigungen und Drohungen aus, er verfluchte Turil, seine Familie, seine ungeborenen Kinder, drohte ihm mit einem grausamen Tod. Psychedelisch anmutende Bilder machten aus dem Höhlenraum einen aufs Riesenhafte vergrößerten Projektionsraum. Der Refrakto wollte Turil verwirren und erschrecken, wollte ihn wider besseren Wissens von hier vertreiben. Der Totengräber nahm es hin und gab sich gelangweilt. Diese Pseudowesen gefielen sich darin, irrationale Verhaltensmuster zu pflegen.
    Irgendwann verstummte der Alte. Er schrumpfte auf ein Normalmaß zurück, die Schultern fielen kraftlos nach
vorne. »Na schön«, sagte der Refrakto missmutig, »ich liege links von dir, drei Schritte voraus.«
    Turil näherte sich langsam, während die Schutzmechanismen des Mantels nach allen Seiten sicherten. Zwischen mehreren abgebrochenen Selenitbrocken eingeklemmt lag der eiförmige Zentralkörper, halb so groß wie Turil selbst. Er war teils von Staub und kristallinen Ablagerungen überkrustet. Drei der insgesamt vier Beine waren weggebrochen und korrodiert, das letzte zuckte hilflos in der Luft wie das eines auf dem Rücken liegenden Käfers. Nein, von diesem Kunstgeschöpf ging keine Gefahr aus. Seine Lebensund Kraftreserven näherten sich ihrem Ende. Der Refrakto würde bestenfalls noch einige Jahrhunderte funktionieren, bevor er den in den Katakomben herrschenden Umweltbedingungen zum Opfer fiel. Vor allem die nahe der Hundert-Prozent-Marke liegende Luftfeuchtigkeit musste ihm Schwierigkeiten bereiten.
    Turil tastete den Zentralkörper sorgfältig ab. Eine der Linseneinheiten war beschlagen; deswegen hatte das linke Riesenauge wie von einem Grauschleier überzogen gewirkt. Mit einem antistatischen Tuch reinigte und polierte der Thanatologe die Übertragungseinheit, so gut es ging. Um mehr zu tun, mussten Spezialisten ans Werk, die sich nicht nur um das Äußere und die Hardware kümmerten, sondern sich auch des Kodebuchs der Programmierung annahmen und die Charaktertiefe des Refraktos überarbeiteten. Vielleicht hätten sich im Zuge einer derartigen Restrukturierung Andeutungen oder Hinweise auf die ursprüngliche Aufgabe des Kunstgeschöpfs ergeben - doch dieses Vielleicht war es nach Turils Ansicht nicht wert, mehr Zeit als nötig zu verschwenden.
    Er kramte einen halb verbrauchten Booster der Bariumtitanat-Klasse
aus seinem kleinen Rucksack und legte ihn vorsichtig auf den Eikörper. Das Gerät setzte sich zögernd in Bewegung; er würde sich selbsttätig eine Ladeklappe suchen und den Refrakto mit Energien versorgen, die ihm mindestens hundert zusätzliche Jahre Leben garantierten. Sorgfältig wischte Turil Staub und Schmutz beiseite, so dass der Booster leichteres Spiel hatte. Schon bald hatte der sein Ziel erreicht und begann mit dem Ladevorgang.
    »Danke!«, seufzte der Refrakto nach einer Weile. Der alte Mann stand nun aufrecht statt gebückt, und er wirkte um einige Jahre jünger. Sein Bild war klarer, konturierter.
    »Erzähl mir deine Geschichte«, forderte der Thanatologe ihn auf. Refraktos waren dankbar - und leutselig. Vielleicht ließ er sich Informationen entlocken, die Turil irgendwann verwenden konnte.
    »Da gibt es nicht viel, an das ich mich erinnere.« Der Alte setzte sich - scheinbar - auf einen Felsbrocken. »Ich weiß noch, dass ich auf der Oberfläche Domiendrams zu mir kam, vor mehr als fünftausend Jahreswechseln. Die Welt war leer und unberührt, nur ein paar neugierige Kriechtiere ließen sich blicken und verbissen sich in meinem metallenen Körper. Ich verscheuchte sie und versuchte zu ergründen, warum ich existierte. Doch in meinen Gedächtnisroutinen fand sich nichts, das mir
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