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Turils Reise

Turils Reise

Titel: Turils Reise
Autoren: Michael Marcus Thurner
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Wir wollen das Nekromantion erreichen, bevor seine Bewohner zur Gänze erwachen. Nimm eine Fackel aus der Halterung. In den Katakomben ist kein künstliches Licht erlaubt.«
    Turil nahm die Kienfackel an sich und leuchtete den Weg aus. Die Dächer der Häuser links und rechts lehnten sich aneinander, als wären sie gute Freunde. Der Thanatologe war schlank, wie alle seiner Art. Dennoch schaffte er es kaum, sich durch die schmale Lücke zwischen den glitschigkalten Steinwänden zu zwängen. Dahinter war es dunkel, und es roch nach Wiese. Nach Moos. Nach Kühle. Turil stand am Rande eines … Waldes.

    Er hatte schon zu viel in seinem Leben gesehen, um für länger als ein paar Atemzüge erstaunt zu sein. Ein Wald, so dicht, dass viele Stämme einander umarmten, war ungewöhnlich - und andererseits wiederum nicht. Die Domiendramer vereinten fleischliches und pflanzliches Leben in sich. In einem kaum durchschaubaren Durcheinander an Sinnes-und Leibesorganen, photosynthetischen Fühlern, Wurzelpranken, Venensystemen und feuchtigkeitstransportierendem Äderwerk steckten viel Vernunft und Intelligenz, aber auch ein gehöriges Maß an Humor und Fantasie. Nirgendwo sonst in seinem Arbeitssektor waren Turil ähnliche Geschöpfe untergekommen, und auch nicht während der Lehrjahre in anderen Regionen des Kahlsacks. Das änderte allerdings nichts daran, dass ihn sein Auftrag langweilte. Es gab spannendere Dinge zu tun, als einen König zu töten.
    »Schnell, schnell!«, drängte das Fünkchen einmal mehr. »Hier kannst du hindurchschlüpfen.« Es flatterte auf eine Art Pfad zu, der sich zwischen dünnen Stämmen ins Innere des Waldes wand.
    »Dies ist das Kathustral der Seeligkeit?«, fragte Turil.
    »Was denn sonst?« Das Fünkchen schüttelte den Kopf, als wunderte es sich über seine Begriffsstutzigkeit. Es stieg höher, leuchtete Baumkronen aus. Manche von ihnen waren kahl, andere zeigten dichten Bewuchs. Und an vielen von ihnen lehnten knorpelige, verkrümmte Körper. Ausgetrocknete, verdorrte Domiendramer.
    »Hier also werden sie zur letzten Ruhe gebettet«, murmelte Turil.
    »Nur die bedeutendsten von ihnen. Solche, die das Opfer von Weltraumreisen auf sich nahmen, Forscher, Musiker, Wissenschaftler, Politiker, Geschäftsleute.«

    »Ich habe in meinem Dossier nichts von diesem Wald gelesen.«
    »Du sollst auch einen König beerdigen«, summte das Fünkchen, »und nicht das Fußvolk. Deine Aufgabe ist es, den Hauptstamm einer ganzen Generation in die Dunkelheit zu verpflanzen. Das Tötungszeremoniell von Pramain dem Götzlichen muss in seiner Großartigkeit alles übertreffen, was Domiendram während der letzten hundert Jahre erlebt hat.«
    »Selbstverständlich. Der Götzliche wird Bestandteil des großartigsten Tötungsrituals sein, das ich jemals ausgerichtet habe.«
    Ein Standardsatz. Turil hatte ihn schon viele Male verwendet, und er würde es weiterhin tun, bis ans Ende seiner Karriere.
    Er hielt die Fackel auf Armlänge vor sich. Vorsichtig, so dass sie keinesfalls mit einem der weit herabhängenden Äste und Lianen in Berührung kam. Es roch nach Schimmel und Verwesung und Tod, eine Mischung, die ihm durchaus vertraut war. Kleine Tierchen mit wuscheligem Fell und Stummelschwänzchen huschten kreuz und quer über den moosbesetzten Weg. Ihre roten Augen blitzten ihn böse an. Sie waren offenbar der Meinung, dass er hier nichts zu suchen hatte.
    Das Fünkchen schwieg, als hätte es Angst oder Respekt vor den vielen Toten, die in den Astgiebeln saßen und aus leblosen Augen auf sie herabstarrten. Viele von ihnen waren kunstvoll ums Holz der Stämme drapiert worden, als wären sie Teil eines Spektakels, eines Schauspiels, das den ganzen Wald zur Bühne hatte.
    Turil bewunderte ohne Neid die Arbeit seiner hiesigen Kollegen. Sie gaben dem Tod ein Antlitz, das ihm gefiel. Das
Kathustral der Seeligkeit wirkte ästhetisch und entbehrte jeglichen Schreckens. Die Domiendramer wussten mit dem Ende ihres Daseins umzugehen.
    Der Weg endete abrupt. Dornige Efeuranken wuchsen hier so dicht, dass kein Weiterkommen mehr möglich erschien. Fahle Schatten flatterten durch die Baumgiebel über Turil. Die Schwingen der Vögel erzeugten eine Art Melodie mit stakkatoartigen Tönen.
    »Hier befindet sich der Abgang zu den Katakomben«, unterbrach das Fünkchen seine Gedanken. »Die Karakähen sind bereits erwacht. Schade, schade …«
    Der Thanatologe blieb abrupt stehen. Die Stimme des kleinen Wesens klang verändert. Zornig und lauernd.
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