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Tuermer - Roman

Tuermer - Roman

Titel: Tuermer - Roman
Autoren: Daniela Danz
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einzugehen. Sie wollte mich in den Arm nehmen, ich wich unwillentlich einen Schritt zurück, unsere alte Fremdheit war mit einemmal wieder da. Ich werde wohl bald weggehen, sagte ich, ohne selbst zu verstehen, warum ich das sagte. Sie machte keinen weiteren Versuch und bat nur: Nicht vor dem Winter, Jan. Nein, vor dem Winter geh ich nicht.
Sanduhren
    Es war Spätherbst, und Vater hortete Baumschmuck. Vor allem jene länglich geformten Glaszapfen mit Silberfäden. Wobei ihm auch der Bruch aus den Glasfabriken genügte, den die Kinder aus dem Abfall fischten und auf der Straße verkauften. In dieser Sache bedurfte er meiner Komplizenschaft, der Dienstweg war lang, um auch nur für einen Tag Urlaub zu bekommen, und mehr als drei Tage im Monat wurden nicht gestattet.
    Ich dachte daran, wie ich ihm abgeschlagen hatte, das Eisenoxyd zum Malen zu besorgen. Wie er tagelang nur für das Nötigste aus dem kleinen Zimmer herauskam und Mutter und ich abwechselnd Feuerwache und Signalgeben übernahmen. Wie ich dann am zweiten Nachmittag an die Tür klopfte und sagte: Ich glaub, da ist Feuer im Schulhaus von Trommsdorf. Feuer, Feuer, regte er sich auf, bin ich etwa der einzige Türmer in dieser pitoyablen Stadt. Und reißt die Tür auf, zerrt mich zum Fenster, zeigt: Nun, was siehst du? Den Kirchturm von St. Wenzel. Und hier, jetzt rennt er in die Küche: Den Rathauskirchturm. Da haben wir einen ehemaligen Lehrer, der mit dem Gemeindediener, dabei trommelt er rhythmisch mit dem Zeigefinger an die Scheibe: Na, der macht das gern und voyeurt durch die Stadt. Und auf dem anderen, er rennt wieder zum Fenster nach St. Wenzel, entriegelt es, reißt die Flügel auf und schreit: Was weiß denn der Feuerwehrdepp vom Leben auf meiner Seite. Und schiebt mich aus dem Raum und drückt die Tür zu. Ich helf dir, sagte ich dieses Mal, wie viele brauchst du?
    Daß er auf meine Hilfe angewiesen war, schien ihn vertraulich zu stimmen. Als ich ihm die ersten Gläser brachte, vergaß er in seinem Eifer unsere Fremdheit und nahm mich heran. Jan, paß auf: er löste den Verschluß der Glaszapfen, zog das Silberzeug heraus, tat aus einem Mörser feine weiße Körner hinein. Ich wollte wissen, was das ist. Eierschalen, in der Ofenröhre getrocknet und zerstoßen. In Wein gekocht, durchs Sieb gerieben, wieder und wieder. Er sah mich an, zögerte kurz und fuhr barsch fort: Was glaubst du, was ich mache den ganzen Tag? Sein Blick verharrte auf mir. Er tat das manchmal, ohne eigentlich auf eine Antwort zu warten. Er wollte mich herausfordern, er wartete auf meinen Angriff. Doch ich wollte nicht angreifen. Die Art, mit der er mich noch vor kurzem ins Vertrauen gezogen hatte, hatte mich wieder zu seinem Sohn gemacht. Ich wollte ihm lauschen, mir die Welt erklären lassen und gern alles glauben. Ich stand auf offenem Feld, der Gegner hatte sich in den Graben zurückgezogen und das Feuer eröffnet. Ich brachte mein Gesicht in Deckung und ließ den Blick abrutschen. Er wandte sich verächtlich den Gläsern zu, nahm ein Messingblech mit einem aufgeklebten trichterförmigen Ring und einem nadelfeinen Loch in der Mitte vom Tisch und legte es auf den Rand eines Glases. Daran fügte er ein zweites Glas, das zur Hälfte mit den gemahlenen Eierschalen gefüllt war. Er verband beide mit einem Pflaster. Ich sah ihm mit kühlem Gesicht zu, aber er schien ohnehin nicht auf mich zu achten, sondern ganz auf seine Hantierungen konzentriert. Er holte eine der alten Sanduhren aus dem Tischkasten und drehte sie gleichzeitig mit der eben gebauten Uhr um. Der Sand und die Eierschalenkörner rieselten von einer Mensur in die andere. Ich überlegte, ob ich gehen sollte. Aber als ich in Vaters Gesicht sah, aus dem schon längst alle Erinnerung an seine eben gesagten Worte verschwunden war, blieb ich. Vater selbst war der Junge mit dem ungeschützten Gesicht. Auf freiem Feld zwischen den Frontlinien stand er und schaute auf den herabfallenden Sand. In diesem Moment verstand ich ihn. Wir waren derselbe Junge, aber zu verschiedenen Zeiten. Da wir nicht gleichzeitig dieser Junge sein konnten, teilten wir uns in ihn. Jetzt war es Vater, und ich stand und mußte verstehen. Verstehen, wie er gebannt die Zeit verrinnen sah. Wie er sich ein Gerät schaffen wollte, das seine Zeit maß. Sein Warten ermessen konnte, das mit ihm wachte und nie ganz trostlos war. Denn es verlor nichts von seiner Fülle: was in der einen Mensur abnahm, nahm in der anderen zu. Und wie zwei Körper wußten die Senke
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