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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder
Autoren: C Rademacher
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Stave. Doch der Junge ist aufgeregt. Die Straßenlaternen, sofern sie überhaupt noch stehen, sind kaputt. Der Himmel ist niedrig, über die Ahrensburger Straße pfeift ein eisiger Nordostwind. Irgendwo muss die Heckscheibe des alten Daimlers einen Riss haben, der sibirische Luftstrom zieht von hinten ins Innere. Stave schlägt den Mantelkragen hoch, er fröstelt. Wann ist ihm das letzte Mal warm gewesen?
    Die Scheinwerfer des Wagens streichen über braunen Schutt. Am Straßenrand wandeln schon Menschen wie Gespenster entlang, trotz der frühen Stunde und der Temperatur von minus 20 Grad: Hagere Männer in umgefärbten Wehrmachtsmänteln, einbeinige Spukgestalten gehüllt in Lumpen, Frauen, die sich Wollschals um Köpfe und vor das Gesicht geschlungen haben, beladen mit Körben und Blechbüchsen – mehr Frauen als Männer, viel mehr.
    Stave fragt sich, wohin die alle so früh wollen. Die Läden, wenn man überhaupt etwas gegen Bezugsschein bekommt, öffnen nur zwischen 9 und 15 Uhr, um Strom für die Beleuchtung zu sparen.
    Fast anderthalb Millionen Menschen leben in Hamburg. Hunderttausend sind im Krieg oder im Bombenhagel gestorben, viele weitere aufs Land evakuiert worden. Dafür sind Flüchtlinge in der Stadt – und DPs, Displaced Persons, befreite KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene, zumeist Russen, Polen, Juden, die nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen oder können. Offiziell leben sie in Lagern, welche die Briten für sie eingerichtet haben, doch viele schlagen sich lieber in der verwüsteten Elbmetropole durch.
    Stave blickt aus dem Fenster: Die gezackten Ruinen eines Hauses, Mauern, wie bei einer mittelalterlichen Ruine, nur dünner. Und dahinter noch mehr Mauern und noch mehr und noch mehr. Das wird hundert Jahre dauern, um es wieder aufzubauen, denkt er. Dann schreckt er auf.
    »1 Peter.« Eine blecherne Stimme, lauter als der röchelnde Achtzylinder. Das Funkgerät.
    Seit einem Jahr haben die Briten der Polizei erlaubt, von der Leitstelle im Stadthaus aus mit den alten Telefunkenkästen zu senden. Die fünf Radiostreifenwagen können allerdings nur Meldungen empfangen, keiner hat einen Sender an Bord, sodass man in der Zentrale nie weiß, ob die Meldungen auch ankommen.
    »1 Peter«, dröhnt die Stimme wieder. »Bitte bestätigen, wenn Sie am Einsatzort sind.«
    »Verdammte Bürokraten«, sagt Stave. »Dann müssen wir uns dort ein Telefon suchen. Wo fahren wir überhaupt hin?«
    Ruge bremst ab, weil ihnen ein Jeep der Briten entgegenrumpelt. Er macht Platz und grüßt den Soldaten am Steuer, doch der ignoriert sie und fährt, eine Staubfahne in der trockenen Luft hinter sich herziehend, an ihnen vorüber.
    »Zur Baustraße in Eilbek«, antwortet der Schupo. »Das ist …«
    »… beim Bahnhof Landwehr. Kenne ich.« Staves Laune verschlechtert sich. »In ganz Eilbek steht kein einziges Haus mehr. Was stellen die Heinis sich vor? Wie sollen wir uns melden? Per Brieftaube?«
    Ruge räuspert sich. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir nicht einmal bis zur Baustraße fahren können, Herr Oberinspektor.«
    »Nein?«
    »Zu viele Trümmer. Wir werden die letzten paar hundert Meter zu Fuß gehen müssen.«
    »Na großartig«, murmelt Stave. »Hoffentlich treten wir nicht auf einen Blindgänger.«
    »Am Tatort treiben sich in letzter Zeit viele Leute herum, da wird nichts mehr hochgehen.«
    »Am Tatort?«
    Ruge wird rot. »Da wo die Leiche gefunden worden ist.«
    »Also am Fundort«, korrigiert ihn Stave, doch er bemüht sich um einen versöhnlichen Ton. Plötzlich wird seine Laune besser. Er vergisst die Kälte und die Trümmer und die gespenstischen Gestalten am Straßenrand. »Wissen Sie denn überhaupt, was uns erwartet?«
    Der junge Schupo nickt eifrig. »Ich war dabei, als die Meldung bei uns eingegangen ist. Spielende Kinder – weiß der Himmel, was die um diese Uhrzeit zu spielen hatten, ich habe da meinen Verdacht. Na jedenfalls, diese Kinder haben eine Leiche gefunden. Weiblich, jung. Und«, Ruge zögert, wird wieder rot, »na ja, nackt.«
    »Nackt bei minus 20 Grad. Ist sie deshalb gestorben?«
    Die Gesichtsfarbe des Schupos wird noch dunkler. »Wissen wir noch nicht«, murmelt er.
    Eine junge Frau, nackt und tot – Stave beschleicht das Gefühl, dass er es mit einem hässlichen Verbrechen zu tun bekommen wird. Seit er von Kripochef Breuer vor einigen Monaten zum Leiter einer kleinen Ermittlungsgruppe ernannt wurde, hat Stave an mehreren Mordfällen gearbeitet. Aber dies hier
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