Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder
Autoren: C Rademacher
Vom Netzwerk:
im Kaiserreich, wohl auch bei der Polizei gesehen hätte – allerdings nicht hinter dem Schreibtisch des Reviers, sondern in der Zelle.
    »Zigarette?«, fragt Stave.
    Ruge zögert kurz, dann greift er zur angebotenen Lucky Strike. Er ist klug genug und fragt nicht, woher der Oberinspektor die Ami-Zigarette hat.
    »Anzünden müssen Sie den Glimmstängel selbst«, setzt Stave entschuldigend hinzu. »Ich habe kaum noch Streichhölzer.«
    Ruge lässt die Zigarette in einer Tasche seiner Uniform verschwinden. Stave fragt sich, ob der Junge sie später rauchen oder irgendwo eintauschen wird. Aber wogegen? Dann ruft er sich zur Ordnung: Von allen Menschen denke ich, sie seien Verdächtige.
    Er ist fertig, dreht sich schon halb zur Tür um, greift aber schließlich doch zum Schulterhalfter, das neben der Tür an einem Haken hängt. Der Schupo starrt ihn an, während Stave sich das Lederband um den Leib schnallt, in dem die Pistole FN 22, Kaliber 7,65 Millimeter steckt. Schupos tragen 40 Zentimeter lange Schlagstöcke am Koppel, keine Feuerwaffen. Die Briten haben fast alles eingezogen, selbst Luftgewehre auf Kirmesständen. Nur wenige Kripobeamte dürfen Pistolen tragen.
    Ruge scheint noch nervöser zu werden. Vielleicht, denkt Stave, weil er ahnt, dass es ernst wird. Vielleicht aber auch, weil er selbst gerne eine Waffe hätte. Dann verscheucht er diese Gedanken.
    »Gehen wir«, sagt er und tastet sich voran ins Treppenhaus. »Vorsicht bei den Stufen, sonst rutschen Sie aus. Und ich habe noch einen Toten an der Backe.«
    Die Männer stolpern nach unten. Einmal hört Stave, wie der junge Schupo einen leisen Fluch ausstößt, doch er kann nicht erkennen, ob Ruge ausgerutscht oder gegen irgendetwas gestoßen ist. Er selbst kennt jede knarzende Stufe und würde selbst in vollkommener Düsternis das Geländer ertasten.
    Sie treten hinaus. Stave wohnt vorne raus, rechts im obersten Stock eines viergeschossigen Mietshauses an der Ahrensburger Straße: Jugendstil, die Wand weiß und blasslila verputzt, auch wenn das unter der Dreckschicht kaum noch zu erkennen ist; Ornamente an der Fassade, hohe, weiße Fenster, an jeder Wohnung ein Balkon mit geschwungener, steinerner Brüstung, darüber Schmiedeeisen. Kein schlechtes Haus. Das übernächste ist ähnlich, bloß heller verputzt. Das Haus dazwischen war auch so gebaut, doch ragen dort nur noch ein paar Mauern auf, Stümpfe aus Ziegeln und Schutt, verkohlte Balken, ein Ofenrohr, das irgendwo in den Trümmern so fest eingeklemmt ist, dass es bislang keinem Plünderer gelungen ist, es zu stehlen.
    Staves ehemaliges Haus. Er hat dort gewohnt, Nummer 91, zehn Jahre lang, bis zu jener Nacht, da die Bomben fielen und sich die Häuser holten: mal hier, mal dort, Lücken in den Gebäudereihen wie in einem schlecht gepflegten Gebiss.
    Warum Nummer 91, aber 93 und 89 nicht? Sinnlos, sich das zu fragen. Und doch denkt Stave daran, jedes Mal, wenn er aus dem Gebäude tritt. Und daran, wie er unter den Trümmern seine Frau hervorgezogen hat – vielmehr das, was von ihrem Körper noch übrig geblieben war. Später hatte ihm jemand, er wusste nicht einmal wer – überhaupt konnte er sich an jene Wochen im Sommer 1943 kaum klar erinnern –, die Wohnung in Nummer 93 angeboten. Wo mochten die Menschen sein, die zuvor dort gelebt hatten? Stave hatte sich gezwungen, darüber nie nachzudenken.
    »Herr Oberinspektor?«
    Stave hört Ruges Stimme wie aus weiter Ferne. Dann die Überraschung: Vor ihm steht ein Streifenwagen, eines von den fünf einsatzfähigen Autos, die der Hamburger Polizei noch geblieben sind.
    »Das nenne ich Luxus«, murmelt er.
    Ruge nickt. »Wir sollen uns beeilen, bevor irgendjemand Wind von der Sache bekommt.« Er klingt übermäßig stolz dabei, findet Stave.
    Dann reißt er die Tür zum 39er Mercedes Benz auf. Ruge hat keine Anstalten gemacht, sie für ihn zu öffnen. Der geht stattdessen um das kastenartige Auto herum und setzt sich hinter das Steuer.
    Im Zickzack fährt er los. Die Ahrensburger Straße war vor dem Krieg gerade und vierspurig, ein bisschen zu breit, die Häuser und die Bäume an beiden Seiten ein bisschen zu niedrig für einen prachtvollen Boulevard, aber immerhin. Nun liegen Trümmer auf der Fahrbahn: Fassaden, die wie gefallene Soldaten nach vorne gekippt sind, Kamine, undefinierbare Schutthaufen. Dazu Bombenkrater, Risse, Panzerketten, verkohlte Baumstümpfe, zwei, drei ausgebrannte Autowracks.
    Ruge kurvt um die Hindernisse herum, zu schnell, findet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher