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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder
Autoren: C Rademacher
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er. »Eine nackte Tote bei dieser Kälte – da hätte ich mir auch ein paar Stunden Zeit lassen können.«
    »Tiefgefroren.«
    »Besser als im Leichenschauhaus. Wird nicht einfach sein, den exakten Todeszeitpunkt festzustellen. Seit sechs Wochen war es an keinem Tag wärmer als minus 10 Grad. Die könnte hier theoretisch schon tagelang liegen und immer noch taufrisch aussehen.«
    »Taufrisch würde ich ihren Zustand nicht gerade nennen«, brummt Stave. Er sieht sich um. Die Baustraße war einst Teil eines Kleine-Leute-Viertels: Dutzende Blocks braunroter, backsteinverkleideter Mietshäuser, fünf Geschosse, gepflegt, Bäume auf der Straße. Arbeiter, Handwerker, Händler lebten hier. Alles zerstört. Stave blickt über zersprengte Mauern, die Stümpfe abgebrannter Bäume, Schuttberge. Nur am Ende der Straße steht rechts das gelb verputzte Mathias-Stift, ein Kinderheim, wie durch ein Wunder vom Bombenregen verschont.
    »Zwei Buben aus dem Stift haben die Tote entdeckt«, sagt einer der Schupos, der wieder neugierig nähergetreten ist und den Blick des Kripo-Beamten richtig gedeutet hat.
    Stave nickt. »Gut, ich werde sie gleich befragen. Und damit, Herr Doktor, hat sich die Frage nach dem Todeszeitpunkt schon vereinfacht. Läge diese Frau hier schon lange, dann wäre sie von den Bengels aus dem Stift längst entdeckt worden.«
    Er mag den Pathologen, der wegen seines Namens – »Tschisini« ausgesprochen – endlose Witzeleien über sich ergehen lassen muss. In der Zeit nach 1933 zumeist Anspielungen auf seinen polnischen Namen und irgendwie bedrohlich. Czrisini arbeitet schnell, ein Junggeselle, dessen ganze Leidenschaft Leichen und Zigaretten gilt.
    »Denken Sie das Gleiche wie ich?«, fragt ihn der Arzt.
    »Vergewaltigung?«
    Czrisini nickt. »Jung, hübsch, nackt und tot. Das würde passen.«
    Stave wiegt den Kopf hin und her. »Bei minus 20 Grad hat auch der verrückteste Vergewaltiger Angst um sein bestes Stück. Andererseits kann man ihr das auch in einer warmen Stube angetan haben.« Er deutet auf die Schleifspuren. »Sie ist bloß hier abgelegt worden.«
    »Liegt sie erst einmal bei mir auf dem Seziertisch, werden wir bald mehr herausfinden«, erwidert der Pathologe fröhlich.
    »Nur ihren Namen nicht«, murmelt Stave. Was, wenn der Täter sein Opfer nicht aus mörderischer Lust entkleidet hat? Sondern aus kühler Berechnung? Eine Nackte inmitten eines Ruinenfeldes, in dem seit Jahren niemand mehr wohnt. »Wird nicht so einfach sein, sie zu identifizieren«, verkündet er.
    Kurze Zeit später trifft der Spezialist der Spurensicherung ein, der zugleich Polizeifotograf ist – der Kripo fehlen gut ausgebildete Leute. Stave deutet auf die Schleifspuren. Der Fotograf beugt sich über die Leiche. Als sein Blitzlicht zündet, hat Stave plötzlich das Mündungsfeuer der Flak am Stadtrand vor Augen und die grellen, an Fallschirmen langsam zu Boden segelnden Fackeln, mit denen die ersten britischen Flugzeuge den nachfolgenden Bombern die Ziele markierten. Er presst kurz die Lider zusammen.
    »Vergessen Sie nicht die Schleifspuren«, ordnet er nochmals an. Der Fotograf nickt stumm – Staves Befehl klang unfreundlicher, als er ihn gemeint hat.
    Anschließend lässt er sich die beiden Jungen bringen, die die Tote gefunden haben: Keine zehn Jahre alt, mager, blass, blaue Lippen, zitternd, wohl nicht nur vor Kälte. Waisenkinder. Stave überlegt einen Moment lang, ob er den strengen Polizisten spielen soll, entscheidet sich aber rasch dagegen. Er beugt sich zu ihnen hinunter, fragt freundlich nach den Namen, verspricht dann, dass sie wegen ihres frühmorgendlichen Ausflugs keine Strafe zu befürchten hätten.
    Fünf Minuten später weiß er alles, was es in diesem Fall zu wissen gibt: Die beiden Buben sind noch vor dem Frühstück ausgebüxt, um in den Trümmern nach MG-Patronen und den glänzenden Hülsen von Flakgeschossen zu suchen. Fast jeden Tag verstümmeln sich irgendwo in der Stadt Kinder, die zwischen den Ruinen scharfe Munition finden. Doch es ist sinnlos, die beiden Jungen zu ermahnen. Stave kann sich noch ganz gut an seine eigene Kindheit erinnern. Hätte er nicht genauso fasziniert nach diesen Relikten gesucht? Und hätte es etwas genützt, wenn ihm ein Erwachsener dieses Abenteuer verboten hätte? Zuletzt fragt er die beiden Jungen, ob sie häufig auf die Suche gehen. Verlegenes Schweigen, dann zögerliches Kopfschütteln: Nein, das sei ihr erster Streich gewesen. Auch keines der anderen Kinder habe
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