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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder
Autoren: C Rademacher
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als wäre es ursprünglich größer und geteilt worden. Kaum leserliche Buchstaben, hellgrauer Bleistift, doch unverkennbar die Handschrift, in der so viele Hausaufgaben verfasst worden waren, die er einst korrigierte, damit der Lehrer keine Fehler mehr fand.
    Vater,
    ich habe nur diesen Fetzen Papier, deshalb fasse ich mich kurz. Mir geht es gut, den Umständen entsprechend. Ich bin in Berlin in Gefangenschaft geraten. Ein sowjetisches Gericht hat mich verurteilt, ich weiß nicht, warum. Ich glaube, zu zehn Jahren Workuta, aber vielleicht verkürzen sie die Zeit. Ich bin ja noch jung. Wir helfen uns hier, so gut es geht. Sibirien ist sehr kalt, aber in ein, zwei Monaten ist der Winter vorbei. Wir haben schon wieder Tageslicht, die Polarnacht ist vorüber. Ich hoffe, bald wieder in unserer Hamburger Wohnung zu sein. Dann reden wir über alles.
    Karl
    Stave lässt das Papier vorsichtig auf die Schreibtischplatte sinken. Beinahe hätte er es zerknüllt, obwohl es doch so kostbar ist.
    Er ist enttäuscht und schämt sich zugleich dafür. Wie kalt diese Zeilen sind. Nichts darüber, wie es im Lager zugeht, wie es ihm ergangen ist in den letzten fast zwei Jahren, kein persönliches Wort an ihn. Schon wieder dein verdammtes Selbstmitleid, denkt er dann, liest den Brief wieder, genauer. Karl hat nur diesen einen Fetzen Papier, was soll er Romane schreiben? Und sicherlich wird jedes Schreiben aus Workuta einem sowjetischen Zensor vorgelegt. Karl, der distanzierte, stolze, empfindsame Junge wird nicht wollen, dass irgendein russischer Politoffizier persönliche Worte liest. Vielleicht, sagt sich Stave, hat sein Sohn seine Botschaft auch hinausgeschmuggelt, versteckt in den sachlichen Zeilen.
    Wieder liest er den Brief – und da: »Ich hoffe, bald wieder in unserer Hamburger Wohnung zu sein.«
    Unsere Wohnung.
    Dieses eine Wort – »unser« –, zeigt das nicht die Gemeinsamkeit von Vater und Sohn? Zeigt das nicht, dass Karl zurückkehren will? Dass dies hier immer noch sein Zuhause ist? Und was bedeutet Zuhause? Gemeinschaft, Vertrauen und, hoffentlich, Liebe.
    Stave hätte beinahe geweint, wenn er nicht befürchten müsste, dass ein Kollege in sein Büro platzen und ihn aufgelöst am Tisch finden könnte. Das ist der allererste Schritt der Rückkehr, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Karl wird noch tausend Schritte gehen, ich muss sorgfältig nachdenken, sagt er sich.
    Er verlässt die Kripo-Zentrale, geht die paar hundert Meter bis zum Hansaplatz. Hoffentlich machen sie heute keine Razzia, denkt er. Und hoffentlich erkennt mich niemand vom letzten Mal.
    »Sibirien ist sehr kalt«, hat Karl geschrieben. Kann man nicht über das Rote Kreuz Pakete schicken? Also wird Stave mit seinen gesparten Zigaretten und den paar Reichsmarkscheinen, die er aus Angst vor Einbrechern stets mit sich führt, auf den Schwarzmarkt gehen. Was soll er holen? Mantel. Mütze. Schal. Und Schuhe, auf jeden Fall schwere, gute Winterschuhe, Stiefel, was auch immer.
    Der Oberinspektor schlägt den Mantelkragen hoch, obwohl die Luft lau ist. So ist sein Gesicht vom Stoff und vom tief heruntergezogenen Hut verborgen, hofft er. Dann drängt er sich durch die Menge, die schiebenden, hin und her wandernden Gestalten auf dem Platz. Bleibt hier einmal stehen, mustert dort unauffällig die Ware unter einem Mantel, hört ein gemurmeltes Gebot, flüstert selbst: »Winterschuhe, Größe 42. Winterschuhe. Winterschuhe.«
    »Hab ich«, zischt plötzlich eine ältere, verhärmt aussehende Frau, die wie zufällig neben ihm schlendert. Stave kommt sie vage bekannt vor. Wahrscheinlich ist sie bei der Razzia ins Netz gegangen, er hat sie aber nicht persönlich verhört. Hoffentlich erkennt sie mich nicht, denkt er. Doch sie lächelt schüchtern. Wahrscheinlich hätte sie nicht mehr gedacht, noch Winterschuhe loszuwerden, jetzt, wo es plötzlich warm wird. Sie geht etwas schneller, er folgt ihr bis zum Rand des Platzes. Ein Hauseingang. Sie öffnet im Schatten eine alte Einkaufstasche. Zwei braune Herrenschuhe, grobe Sohle, dickes Leder, sie können als Winterschuhe durchgehen. Knicke im Leder, die Sohlen sind abgelaufen.
    »Kaum getragen«, lügt die Frau.
    »Wie viel?«, fragt Stave und hofft, dass sie die richtige Größe haben.
    »500 Reichsmark«, antwortet sie.
    Ganz schön frech, denkt der Oberinspektor, jetzt, da der Winter vorüber ist.
    »Abgemacht«, flüstert er jedoch. Was bleibt ihm auch anderes übrig?
    Zwei hastige Bewegungen, verstohlene Blicke,
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