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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir
Autoren: Dirk Bernemann
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unglaublich traurig zu sein, dass die ungeweinten Tränen zusätzlichen Ballast ausmachen, aber Roy rennt. Er fühlt sich wie eine Ganzkörperblamage. Die Leute rufen noch was, manches hört sich an wie schallendes Lachen, und das Schlimme daran ist, dass sich Roy seiner Lächerlichkeit bewusst ist. Roy fühlt sich wie ein Einrichtungsgegenstand in einer fremden Wohnung, zufällig von geschmacklosen Menschen an einen Ort gestellt und dort belassen und gleichzeitig vergessen.
    Und Roy rennt, rennt die Straße hinunter, ziellos, in seinen Augen sammeln sich sehnsuchtsvolle Tränen, rollen sein dickliches Gesicht herunter. Tränen, die ihm ein wenig die Sicht nehmen, und er sieht verschwommene Leute gucken, sieht andere, unklare Menschen lachen, sieht sich selbst beim Passieren zu und empfindet etwas zu viel Grausamkeit in diesem Ding, das sich sein Leben schimpft.
    Das ist irgendwie symbolisch für Roys Leben. Dieses zufällig irgendwo sein und vor allem, dieses zufällig irgendwie sein und sein zu müssen . Er ist sich seiner Trisomie 21-Ausstrahlung durchaus bewusst, aber dieses Wissen ist ein Ballast, fühlt sich an wie ein angewachsener Rucksack, der mit Steinen gefüllt ist und zieht an seinem Körper, wie auch an seinem Bewusstsein. Und er fühlt sich, als fiele er ständig, vom Punkt seiner Geburt in die Zielsicherheit eines Todes. Den ganzen Weg nur gefallen. Gefallen am Fallen wird Roy nie finden. Was er sucht, ist aufrichtige Liebe, konkrete Herzensangelegenheiten, die die Leute treffen, die sie etwas angehen. Und die kommen dann an und antworten mit Stigmatisierung.
    Als Inhaber von 47 Chromosomen wird einem der Weg in die Verständniswelt von Inhabern mit lediglich 46 Chromosomen stark verbaut. Helfersyndromsgeschädigte Mitmenschen kommen nur allzu oft daher und schätzen die behinderte Gefühlswelt ein, um ihre eigene Gefühlswelt vor seltsamen Schamgefühlen zu beschützen. Und dann steht man da, denkt Roy, steht da rum mit seinen 47 Chromosomen und der entsprechenden Optik und kann seiner Rolle nicht entkommen. Als die Rollen für dieses Stück besetzt wurden und Gott sich fragte, wer denn nun den Behinderten spielen soll, kam ihm Roy ins Blickfeld. Gleichzeitig mit dem Zuvielchromosom steckte er ihn randvoll mit Leidenschaft und machte ihn so zur melancholischen Elite. Dieser Gotttyp hat wirklich einen seltsamen Humor.
    Roy lebt irgendwo zwischen dem ekelhaften Süßgefundenwerden unbekannter Menschen, von denen er eigentlich ernst genommen werden mag, und dem Nichtzutrauen anderer Leute, die ihm ewig Sachen erklären, die Roy weiß. Ein Blick in sein Gesicht ist für viele ein Blick auf die Fassade der Dummheit, die eigentlich in ihnen selbst drin ist, und dann steigt Mitleid auf wie der Geruch vergifteter Kotze, und Roy will das nicht kommentieren, nein, er weiß, dass Worte die Zustände nicht verbessern, weil sie nur umschließen können, was da ist, Worte, so weiß Roy, können niemals den Kern der Menschlichkeit anrühren. Deswegen hat er sich vorgenommen, nie zu sprechen. Niemals.
    Bis hierher ist Roy gerannt und sein kleines, fettes Herz scheint mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt seinen ganzen Körper ausfüllen zu wollen. Irgendwann geht Roy wieder langsamer und er erkennt, dass die Stadt grauer als grau ist, und genauer als genau erkennt er, dass das Schicksal ihn mit einem viel zu dicken Pimmel in eine dafür nicht vorgesehene Körperöffnung fickt. Und er sucht in sich, was ihn antreibt, und er findet diese kleine Verzweiflung, die ihm wie Mahlzeiten verabreicht wird.
    Was ihn treibt, ist die Schönheit der Augenblicke, ist die Sehnsucht nach irgendeiner ehrlich gemeinten Nähe, nach der Nähe eines anderen Menschen, der sich in seine greifbare Nähe begeben mag. Ohne Vorurteil, ohne Scham, ohne Schande und Mitleid. Das rothaarige Mädchen hat etwas in ihm aufgewühlt, so als sei sie eine Bäuerin und Roy selbst ein unbestellter Acker, und das Mädchen schaufelt ihm die Oberfläche vom Leib und unter der dicken, weißen Mongohaut tauchen dann allerlei Gefühle auf, die einfach da sind und Funken sprühend ihre Existenz beweisen.
    Die Sonne ist immer noch gelb brüllend und gibt dem Tag eine Farbe, die sich van Gogh ausgesucht haben muss. Roy trottet vertrottelt umher, die Stadt mit diesen Autos, Häusern und Menschen umgibt ihn wie ein Hochsicherheitstrakt. Genauso ist es mit seinem Körper, der wirkt für Roy ebenfalls wie ein Knast. Er fühlt sich in seiner körperlichen
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