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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir
Autoren: Dirk Bernemann
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phantasiert hat. Er hat immer noch seine Sonnenbrille auf und findet das gut, weil die macht ein wenig Distanz zur Welt um ihn, diese Welt, die aus den Leuten besteht, die sich komische Gedanken machen und sich Sachen vorstellen, die ihr eigenes Leben gegenüber anderen Leben aufwerten. Langsam nimmt Roy seine Brille ab. Die Leute gucken auf ihn runter mit einer ekelhaften Mischung aus Mitleid, Empathie und Zuvielcourage.
    »Bist du hingefallen, Junge?« Die Frau mittleren Alters mit dem Kind an der Hand beugt sich ein stückweit zu Roy herunter. Das Kind an ihrer Hand guckt ihm verstört ins Gesicht und verschwindet zur Hälfte hinter den Beinen der Frau. »Was ist mit seinem Gesicht?«, fragt das kleine Mädchenkind, und die Frau versucht eine diplomatische Erklärung aus den Zutaten Direktheit und Sendung-mitder-Maus-Einfühlungsvermögen. »Der junge Mann ist behindert, verstehst du, Pauline? Er sieht im Gesicht ein bisschen anders aus, weil er einfach so geboren ist. Aber eigentlich ist er ganz normal, sieht nur etwas anders aus.« Roy bemerkt das Unwohlsein der Frau, sich mit Behinderungen auseinandersetzen zu müssen und diese sogar noch zu erklären. Das Mädchen guckt hinter den Beinen der Frau, die etwas zu alt wirkt, um die Mutter zu sein, und etwas zu jung wirkt, um die Oma zu sein, hervor und fixiert Roys Gesicht, der einfach da liegt und zurück guckt. Die kleine Pauline versucht das, was in Roys Gesicht stattfindet, zu begreifen, versucht die dicke, leicht heraushängende Zunge, die sie an einen durstigen Hund erinnert, die schmalen Augen, die kleine Stirn und die kleinen Hände irgendwie einzuordnen und kommt zu dem Entschluss, dass es sich um ein großes Baby handelt, dass von seiner Mutter nicht gewollt wird, weil es so hässlich ist. Deswegen hat die Mutter es aus dem fahrenden Auto geworfen, nach dem Einkaufen. Pauline empfindet so was wie Mitleid und lächelt Roy an, der verstört zurück blinzelt.
    »Kannst du laufen?«, fragt jetzt ein Typ, der neben der Frau mit dem Kind steht, und er reicht Roy die Hand, und Roy findet es schön, wenn ihm eine Hand gereicht wird, aber eigentlich ist er doch hier, um ein Herz zu erobern. Trotzdem ergreift er die Hand des Mannes, und eine herbe Kraft zieht ihn nach oben, und dann steht Roy in der Mitte der Gaffer und findet das maximal peinlich, dass sich diese sorgenreiche Gruppe um ihn postiert hat, um ihn, der doch nur seine Romantik ausschütten wollte. Das war ja auch der Grund, warum er sich hingelegt hatte. Die Gruppe drängt Roy ein wenig weg. Weg vom grünen Fiat. Seine Sonnenbrille fällt auf den Boden, nimmt aber keinen Schaden.
    »Vorsicht, da fährt jemand weg«, sagt die Alte und stößt Roy etwas unsanft in die Seite, sodass er drei Ausfallschritte machen muss, um sein Gleichgewicht zu halten. Er sieht aus dem Augenwinkel, wie ein kleiner Kopf mit roten Haaren in einem grünen Kleinwagen verschwindet, und in ihm schreit alles, was imstande ist, lautlos zu schreien. Dann wird er weiter abgedrängt von den Zufallsleuten, die ihn umgeben, und das Geräusch, das die Autotür des rothaarigen Mädchens beim Schließen macht, kommt Roy vor wie das Geräusch bei einer Enthauptung mit einer stumpfen Axt. Irgendein Knochen knackt, die Stabilität eines Lebens wackelt und Roy bemerkt, dass er wackelt, haltlos wackelt, und er fühlt sich wie ein Ertrinkender auf irgendeinem Ozean, weit weg von irgendeinem Festland und um ihn herum toben sich meterhohe Wellen aus, die ihn umschließen und anschließend begraben. Mit letztmöglicher Gelassenheit hebt Roy seine Sonnenbrille auf, und die kleine Pauline zupft an seinem Jacketärmel. »Kannst du nicht sprechen? Hat deine Mama dir nicht gezeigt, wie man spricht?« Roy denkt kurz daran, dem Mädchen seine Faust auf den Kinderkopf zu schlagen, so mit der ganzen Wut, die da in ihm stattfindet, ein Schlag wäre das, der die ganze Ablehnung, die ganze Problematik seiner Behinderung und die wildeste aller wilden Entschlossenheiten beinhalten würde, und er würde das Gehirn des Mädchens auf ewig schädigen mit diesem einen Schlag.
    Aber Roy schlägt nicht zu, sondern guckt die Leute an, die ihn angucken, und dann will er nur noch rennen und er weiß, wie scheiße es aussieht, wenn er rennt, aber scheiße aussehen ist jetzt mal egal, und er löst sich aus der Mitte der Leute und sein behäbiger Körper beginnt, Distanz zu schaffen. Roy weiß, wie scheiße es aussieht, wie er auszusehen und dabei zu rennen und so
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