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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir
Autoren: Dirk Bernemann
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erinnert sich an eine Zeit, als alles noch in einer gewissen Ordnung um sie herum aufgestellt war. Da war eine schöne Kindheit, gefolgt von einer typischen Jugend, in der sie sich immer noch wähnt. Da wurden aus Bonbons Zigaretten und aus Orangenlimonade Wodka, und der Tausch dieser Güter wurde ohne jedes aktive Zutun ihrerseits einfach so vollzogen. Es passierte einfach so. Plötzlich war alles da, und es gab neue Regeln, neue Unzufriedenheiten und kleine Ziele, nach denen zu streben sich wie das Buddeln nach Nahrung in der Weite irgendeiner Endloswüste anfühlte. Alles zu weit weg.
    Sie erinnert sich an ihre Mutter, die ihr immer diesen beschissenen Helm beim Fahrradfahren auf den Kopf gezwungen hat, der sie vor hirnschädigendem Unheil bewahren sollte. Das war auch die Zeit, als das schlimmste, was ein Mädchen von einem Jungen bekommen konnte, Schläge waren. Als Papas Schultern der höchste Aussichtspunkt und Mama die größte Heldin und Bekämpferin allen Unrechts war. Die einzigen Feinde waren damals nur Mitschüler und Geschwister, ein begrenzter und einschätzbarer Haufen übler Menschen. Die einzig bekannte Droge war damals Hustensaft, und der schlimmste Schmerz, den man fühlen konnte, war der, wenn man mit dem Fahrrad auf dem Schotterweg auf die Fresse fiel und sich die Knie aufschürfte. Zu dieser Zeit konnte man es nicht abwarten, erwachsen zu sein, heute würde man an manchen Tagen gern sein Konto dafür auflösen, einmal so einen Tag wie damals in vollem Bewusstsein erleben zu können. Der Geruch eines Freibades, der fremde Hund auf der Straße, die Tüte Gemischtes für 50 Pfennig an der Bude, verdammt, wo ist das alles hin? Die Erinnerung verklebt die Sinne und verschalt wie ein unabgeholtes Bier am Kneipentresen.
    Irgendwas ist innerhalb von Solveig in Unordnung geraten, es sieht in ihr aus, als habe ein Kind seine mit viel Liebe aufgebaute Legostadt mit Godzilla mäßigen Fußtritten in ein undefinierbares Plastikchaos umgestaltet. Es sieht aus wie Bürgerkrieg im Kinderzimmer, und alles wegen dieser beschissenen Liebe, denkt Solveig. Die Liebe, die wie ein Zug durch ihr Leben rast, und sie ist nur ein kleiner baufälliger Bahnhof, an dem nichts mehr anhält. Der Mann, an dem sie gerade leidet, heißt Emil.
    Emil ist wirklich ein sehr, sehr dummer Name, denkt Solveig; Emil heißen kleine Hunde, die zu Weihnachten verschenkt werden, schnell uninteressant werden oder kaputt gehen und anschließend ins Tierheim gegeben werden, oder F-Jugend-Fußballspieler, die talentiert sind und eine Zukunft in der Kreisliga zu haben scheinen, aber kein Mann, der Leben in Wüstenlandschaften verwandelt. Nein, solche Leute heißen Jared oder Chris oder so, aber niemals Emil.
    Aber Emil kam, sah und besiegte Solveig, die jetzt in ihrem kleinen, grünen Fiat Punto durch die Stadt fährt, die einer Festung gleicht. Alle unterwegs oder in ihren Häusern und Geschäften und beschäftigt mit Verrichtungen, die manchmal so sinnlos sind wie das Betrachten von Regen. Das kann man schön finden, aber es hilft einem nicht durch ein zugebautes Leben hindurch. Und manchmal kommen Sätze in Solveigs Kopf, die Trost versuchen und sagen: Wenn du dich alleine fühlst, dann stell dir vor, du sitzt in einem Bonbonglas und ein rotes Gummibärchen hält deine Hand. Solveig streicht sich ihr rotes Haar aus der Stirn, und hinter dieser Stirn finden Gedanken statt, die aus Langeweile, Verzweiflung und Zersetzung bestehen. Und aus Emil.
    Emil kam in Solveigs Leben durch eine dieser Social Communities, in denen Leute auf ihren Angeberprofilen so tun, als wären sie jemand sehr besonderes. Solveig war damals haltlos, ist sie immer noch, sie fühlt keine Konstanz, obwohl sie die dringend nötig hätte. Wenn da mal etwas in ihr Leben käme, was dann auch da bliebe, und dieses Etwas die Absicht hätte, ihr Leben zu etwas Besonderem zu machen, so wäre das genau das Ding, was Solveig im Visier hat. Sie fühlt sich lediglich halbherzig unterwegs, ihr halbes Herz geöffnet für neue Menschen, die andere Hälfte mit sich selbst beschäftigt und der Festigung und dem Aufbau ihrer inneren Legostadt gewidmet.
    Und dann kam dieser Emil und ließ ein paar Worte da, und zunächst mal war er nichts besonderes, ein junger Mann, blond, unscheinbar und ebenso wie Solveig von einer seltsamen und trotzdem in diese Zeit passenden Willkür angetrieben. So wie viele Männer, die Solveig zu der Zeit kennenlernte. Da war kein Schema zugegen in dieser
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