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Tricks

Tricks

Titel: Tricks
Autoren: Alice Munro
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ihr ging. »Ich weiß, es ist albern. Aber ich möchte, dass sie ein winziges Stückchen von diesem Land hat.«
    Sie hatte Maggie und Soraya, ihrer anderen Freundin, schon von Carla erzählt und ihnen berichtet, wie die Anwesenheit des Mädchens ihr immer mehr bedeutet hatte, wie eine schwer zu beschreibende Verbundenheit zwischen ihnen entstanden zu sein schien und sie in den schrecklichen Monaten des vergangenen Frühjahrs getröstet hatte.
    »Einfach, weil ich jemanden um mich hatte – weil jemand, der so frisch und so kerngesund war, ins Haus kam.«
    Maggie und Soraya hatten gelacht, auf freundliche, aber ärgerliche Art.
    »Es gibt immer ein Mädchen«, sagte Soraya und reckte dabei träge ihre schweren braunen Arme, und Maggie sagte: »Uns allen blüht das irgendwann. Eine Schwärmerei für ein junges Mädchen.«
    Sylvia hatte sich seltsam über dieses altmodische Wort geärgert –
Schwärmerei
.
    »Vielleicht liegt es daran, dass Leon und ich nie Kinder hatten«, sagte sie. »Dumm von mir. Ein Ersatz für Mutterliebe.«
    Ihre Freundinnen redeten gleichzeitig, brachten auf leicht unterschiedliche Art zum Ausdruck, dass es dumm sein mochte, dennoch war es Liebe.
    *
    Heute aber war die junge Frau ganz anders als die Carla in Sylvias Erinnerung, überhaupt nicht das ruhige, heitere Wesen, das unbekümmerte und hochherzige junge Geschöpf, das ihr in Griechenland Gesellschaft geleistet hatte.
    Sie hatte sich kaum für ihr Geschenk interessiert. Fast widerwillig hatte sie nach ihrem Becher Kaffee gegriffen.
    »Eines hätte Ihnen bestimmt gefallen«, sagte Sylvia munter. »Die Ziegen. Ziemlich kleine Ziegen, auch wenn sie voll ausgewachsen waren. Gescheckte und weiße, und sie sprangen oben auf den Felsen herum wie – wie Berggeister.« Sie lachte gekünstelt, sie konnte sich nicht bremsen. »Es hätte mich gar nicht gewundert, wenn sie Lorbeerkränze auf den Hörnern gehabt hätten. Was macht Ihre kleine Ziege? Ich vergesse immer ihren Namen.«
    Carla sagte: »Flora.«
    »Flora.«
    »Sie ist weg.«
    »Weg? Haben Sie sie verkauft?«
    »Sie ist weggelaufen. Wir wissen nicht, wohin.«
    »Oh, das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid. Aber es kann doch sein, dass sie wieder auftaucht?«
    Keine Antwort. Sylvia schaute der jungen Frau in die Augen, etwas, was sie bisher nicht recht über sich gebracht hatte, und sah, dass ihre Augen voller Tränen standen, dass ihr Gesicht fleckig war – schmutzfleckig, um die Wahrheit zu sagen – und offenbar völlig verweint.
    Die junge Frau tat nichts, um Sylvias Blick auszuweichen. Sie kniff die Lippen zusammen und schloss die Augen, ihr Oberkörper schaukelte vor und zurück wie in einem langgezogenen stummen Aufschrei, und dann, erschreckenderweise, schrie sie auf. Sie schrie und weinte und schnappte nach Luft, Tränen liefen ihr über die Wangen, Rotz lief ihr aus der Nase, und sie sah sich verzweifelt nach etwas um, mit dem sie sich abwischen konnte. Sylvia eilte und holte mehrere Handvoll Kleenex.
    »Keine Angst, da, schon gut, ist ja gut«, sagte sie und dachte, dass sie vielleicht das Mädchen jetzt in die Arme nehmen müsste. Aber sie verspürte nicht das geringste Verlangen danach, das zu tun, und es konnte alles verschlimmern. Es konnte sein, dass die junge Frau merkte, wie wenig Sylvia das eigentlich wollte und wie sehr sie dieser geräuschvolle Ausbruch anwiderte.
    Carla sagte etwas, wiederholte es.
    »Schrecklich«, sagte sie. »Schrecklich.«
    »Nein, nicht doch. Wir müssen alle manchmal weinen. Schon gut, keine Angst.«
    »Es ist schrecklich.«
    Und Sylvia konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass die junge Frau sich mit jedem Augenblick der Zurschaustellung ihres Kummers gewöhnlicher machte, sich immer mehr den weinerlichen Studentinnen in ihrem – Sylvias – Büro anglich. Einige weinten wegen ihrer Zensuren, aber das war oft taktisch, ein kurzer, wenig überzeugender Tränenausbruch. Die selteneren anhaltenden Tränenfluten hatten im Endeffekt etwas mit einer Liebesaffäre zu tun oder mit den Eltern oder mit einer Schwangerschaft.
    »Das ist doch nicht etwa wegen Ihrer Ziege?«
    »Nein. Nein.«
    »Sie müssen ein Glas Wasser trinken«, sagte Sylvia.
    Sie ließ sich Zeit, bis das Wasser kalt aus dem Hahn lief, und überlegte, was sie sonst noch tun oder sagen sollte, und als sie mit dem Wasser zurückkam, beruhigte Carla sich bereits.
    »So. So«, sagte Sylvia, als das Wasser geschluckt wurde. »Schon besser?«
    »Ja.«
    »Die Ziege ist es nicht. Was
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