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Tricks

Tricks

Titel: Tricks
Autoren: Alice Munro
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dann?«
    Carla sagte: »Ich kann's nicht mehr ertragen.«
    Was konnte sie nicht mehr ertragen?
    Ihren Mann, stellte sich heraus.
    Er war ständig wütend auf sie. Er verhielt sich, als ob er sie hasste. Es gab nichts, was sie ihm recht machen konnte, nichts, was sie sagen konnte. Das Zusammenleben mit ihm machte sie verrückt. Manchmal dachte sie, sie sei schon verrückt. Manchmal dachte sie, er sei es.
    »Hat er Ihnen wehgetan, Carla?«
    Nein. Körperlich hatte er ihr nicht wehgetan. Aber er hasste sie. Er verachtete sie. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie weinte, sie musste aber immer wieder weinen, weil er so wütend auf sie war.
    Sie wusste nicht, was sie machen sollte.
    »Vielleicht wissen Sie ganz gut, was Sie machen sollten«, sagte Sylvia.
    »Fortgehen? Das würde ich ja machen, wenn ich könnte.« Carla fing wieder an zu heulen. »Ich würde alles dafür geben wegzukommen. Aber ich kann nicht. Ich habe kein Geld. Ich kann nirgendwo hin, nirgendwo.«
    »Denken Sie mal nach. Stimmt denn das wirklich?«, sagte Sylvia in ihrer besten Beratungsmanier. »Haben Sie denn keine Eltern? Haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie in Kingston aufgewachsen sind? Haben Sie dort keine Angehörigen?«
    Ihre Eltern waren nach British Columbia gezogen. Sie hassten Clark. Ihnen war egal, ob sie am Leben oder tot war.
    Brüder und Schwestern?
    Ein neun Jahre älterer Bruder. Der war verheiratet und lebte in Toronto. Dem war sie auch egal. Der konnte Clark nicht leiden. Und seine Frau war ein Snob.
    »Haben Sie je an ein Frauenhaus gedacht?«
    »Die nehmen einen doch erst, wenn man verprügelt worden ist. Und alle würden es erfahren, und das wäre schlecht für unser Geschäft.«
    Sylvia lächelte sanft.
    »Ist das die Zeit, darüber nachzudenken?«
    Darauf lachte sogar Carla. »Ich weiß«, sagte sie, »ich bin bescheuert.«
    »Hören Sie«, sagte Sylvia. »Hören Sie mir zu. Wenn Sie das Geld hätten, um zu gehen, würden Sie dann gehen? Wohin würden Sie gehen? Was würden Sie machen?«
    »Ich würde nach Toronto gehen«, sagte Carla prompt. »Aber ich würde nicht zu meinem Bruder gehen. Ich würde in einem Motel oder irgendwo bleiben und mir einen Job in einem Reitstall suchen.«
    »Meinen Sie, Sie könnten das?«
    »Ich habe in dem Sommer, in dem ich Clark kennengelernt habe, in einem Reitstall gearbeitet. Ich habe jetzt mehr Erfahrung als damals. Viel mehr.«
    »Sie hören sich an, als hätten Sie sich das alles schon überlegt«, sagte Sylvia nachdenklich.
    Carla sagte: »Ich tu's jetzt.«
    »Wann würden Sie denn gehen, wenn Sie könnten?«
    »Jetzt. Heute. Noch diese Minute.«
    »Alles, was Sie aufhält, ist Geldmangel?«
    Carla holte tief Luft. »Das ist alles«, sagte sie.
    »Na gut«, sagte Sylvia. »Jetzt hören Sie sich meinen Vorschlag an. Ich finde, Sie sollten nicht in ein Motel gehen. Ich finde, Sie sollten den Bus nach Toronto nehmen und bei einer Freundin von mir wohnen. Sie heißt Ruth Stiles. Sie hat ein großes Haus, und sie lebt allein, und sie hat nichts dagegen, wenn jemand bei ihr übernachtet. Da können Sie bleiben, bis Sie einen Job gefunden haben. Ich helfe Ihnen mit etwas Geld aus. In der Gegend von Toronto muss es doch viele Reitställe geben.«
    »Ja, viele.«
    »Also, was meinen Sie? Soll ich anrufen und mich erkundigen, wann der Bus fährt?«
    Carla sagte ja. Sie zitterte. Sie fuhr sich immer wieder mit den Händen über die Oberschenkel und warf den Kopf von einer Seite zur anderen.
    »Ich kann's nicht glauben«, sagte sie. »Ich zahle es Ihnen zurück. Ich meine, vielen Dank. Ich zahle es Ihnen zurück. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    Sylvia war schon am Telefon und wählte die Nummer vom Busbahnhof.
    »Pst, ich höre die Abfahrtzeiten«, sagte sie. Sie lauschte und hängte auf. »Ja, das weiß ich. Sind Sie mit Ruth einverstanden? Ich sage ihr Bescheid. Es gibt allerdings ein Problem.« Sie betrachtete kritisch Carlas Shorts und ihr T-Shirt. »Sie können nicht gut in diesen Sachen fahren.«
    »Ich kann nicht nach Hause, um mir was zu holen«, sagte Carla panisch. »Es wird schon gehen.«
    »Der Bus hat eine Klimaanlage. Sie werden erfrieren. In meinem Schrank findet sich bestimmt etwas, was Sie tragen können. Wir haben doch ungefähr dieselbe Größe?«
    »Sie sind zehnmal dünner.«
    »Früher nicht.«
    Am Ende entschieden sie sich für ein braunes, kaum getragenes Leinenjackett – Sylvia hatte es für einen Fehlkauf gehalten, zu streng geschnitten –, eine hellbraune
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