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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen
Autoren: Martin Cruz Smith
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gute Idee. Sie sind der einzige kultivierte Russe, den wir kennen, und da wir wissen, dass Sie zu wenig auf sich achten, müssen wir es eben für Sie tun.«
    Frau Rajapakse trug einen Sari. Sie flatterte durch die Wohnung wie ein Schmetterling, fing eine Fliege und warf sie aus dem Fenster.
    »Sie kann keiner Fliege etwas zuleide tun«, sagte ihr Mann.
    »Moskau ist eine schrecklich gewalttätige Stadt. Sie macht sich ständig Sorgen um Sie.«
    Arkadi goss sich, nachdem er sie aus der Wohnung komplimentiert hatte, ein halbes Glas Wodka ein und brachte einen stillen Trinkspruch auf sich aus - einen Altrussen.
    Der elfjährige Jewgeni Lysenko, Spitzname Schenja, sah aus wie ein alter Mann, der auf den Bus wartete. Er trug dieselbe dicke karierte Jacke und die dazu passende Mütze wie damals, im letzten Winter, als die Miliz ihn im Kinderheim abgeliefert hatte. Die Ärmel wurden zu kurz, doch jedes Mal, wenn Arkadi den Jungen zu einem Ausflug abholte, trug er dieselben Sachen und hielt das Schachspiel und das Märchenbuch in der Hand, die man bei ihm gefunden hatte. Käme Schenja nicht alle paar Wochen heraus, würde er ausreißen. Wieso sich Arkadi für den Jungen verantwortlich fühlte, war ihm selbst ein Rätsel. Alles hatte damit begonnen, dass er eine wohlmeinende Freundin, eine Fernsehjournalistin, begleitet hatte, eine nette Frau, die ein Kind suchte, das sie bemuttern und retten konnte. Als Arkadi zum nächsten Ausflug im Heim eintraf, klingelte sein Handy. Es war die Journalistin. Sie entschuldigte sich und sagte, sie könne nicht kommen, ein Nachmittag mit Schenja habe ihr gereicht. Aber da war Schenja schon fast am Wagen, und Arkadi hatte vor der Alternative gestanden, entweder hinters Steuer zu springen und davonzubrausen oder selbst mit dem Jungen einen Ausflug zu machen.
    Wie auch immer, jedenfalls stand Schenja, trotz des warmen Sommertags winterlich gekleidet und das Märchenbuch umklammernd, jetzt wieder da, und Olga Andriwna, die Heimleiterin, zupfte an ihm herum. »Muntern Sie Schenja auf«, sagte sie zu Arkadi. »Heute ist Sonntag. Alle anderen Kinder haben Besuch. Schenja sollte auch etwas haben. Erzählen Sie etwas Lustiges. Seien Sie nett. Bringen Sie ihn zum Lachen.«
    »Ich will versuchen, mir ein paar Witze auszudenken.«
    »Gehen Sie ins Kino, oder spielen Sie mit ihm Fußball. Der Junge muss mehr unter Menschen, muss mehr aus sich herausgehen. Bei uns bekommen die Kinder psychologische Betreuung, anständiges Essen, Musikstunden und regelmäßigen Schulunterricht. Die meisten blühen auf. Nur Schenja nicht.«
    Das Heim machte einen angenehmen Eindruck, ein zweistöckiges, wie von Kinderhand mit Vögeln, Schmetterlingen, Regenbogen und Sonne bemaltes Gebäude mit einem richtigen, von Ringelblumen gesäumten Gemüsegarten. Es war eine Mustereinrichtung, eine Oase in einer Stadt, in der es viele tausend obdachlose Kinder gab, die auf Märkten Karren schoben oder noch schwerere Arbeiten verrichteten. Arkadi entdeckte auf einem Spielplatz ein paar Mädchen, die im Kreis saßen und ihren Puppen Tee servierten. Sie sahen glücklich aus.
    Schenja stieg in den Wagen und schnallte sich an. Er hielt sein Buch und sein Schachspiel umklammert und sah stur geradeaus wie ein Soldat.
    »Und, was wollen Sie unternehmen?«, fragte Olga Andriwna.
    »Nun ja«, antwortete Arkadi, »wir sind ja so sonnige Gemüter. Uns wird schon was einfallen.«
    »Spricht er mit Ihnen?«
    »Er liest mir aus seinem Buch vor.«
    »Aber er spricht mit Ihnen?«
    »Nein.«
    »Wie verständigen Sie sich dann mit ihm?«
    »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
    Arkadi besaß einen alten Schiguli 9, kein besonders ansprechendes Gefährt, aber für russische Straßen gebaut. Sie fuhren an der Flussmauer entlang, vorbei an Anglern, die auf städtisches Wassergetier aus waren, was in Anbetracht der schwarzen Abgaswolken und der grünen Fluten der Moskwa von unerschütterlichem Optimismus zeugte. Ein BMW schoss vorbei, dicht dahinter ein Geländewagen mit Leibwächtern. Tatsächlich war die Stadt sicherer als noch vor Jahren, und solche Begleitfahrzeuge hatten hauptsächlich eine repräsentative Funktion wie das Gefolge eines Lords. Die brutalsten Geschäftsleute hatten sich gegenseitig ausgerottet, und die Waffenruhe zwischen den Mafiagruppen schien zu halten. Natürlich sicherte sich ein kluger Mann doppelt ab. So stand vor Restauranttüren neben hauseigenen Wachleuten meist auch ein Vertreter der lokalen Mafia. In Moskau hatte sich ein
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