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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Recht? Ich dachte, ich würde Pascha langsam verstehen, und dann fand ich Salz bei ihm.« Arkadi lauerte auf eine Reaktion. Vergeblich. »Jetzt müsstest du eigentlich überrascht sein. In seiner Wohnung war eine Menge Salz. Das ist kein Verbrechen, aber es könnte ein Hinweis sein. Manche Leute sagen, so etwas sei von einem Mann zu erwarten, der sich das Leben nehmen will, ein Schrank voller Salz. Sie könnten Recht haben. Oder auch nicht. Selbstmorde untersuchen wir nicht, aber woher sollen wir wissen, ob es Selbstmord war, wenn wir keine Untersuchung durchführen? Das ist hier die Frage.«
    Schenja griff zum Springer und bedrohte Arkadis Läufer. Arkadi zog mit dem König. Sofort verschwand der Läufer in Schenjas Hand, und Arkadi rückte mit einem anderen Opferlamm vor.
    »Aber der Staatsanwalt wünscht keine Komplikationen, schon gar nicht von einem missliebigen Beamten, einem Relikt aus Sowjetzeiten, einem Mann, der auf dem absteigenden Ast ist. Manche Leute marschieren fröhlich von einer historischen Epoche in die nächste, andere geraten ins Straucheln. Man hat mich aufgefordert, eine Pause einzulegen, bis alles geregelt ist, deshalb kann ich den Tag mit dir verbringen.«
    Unterdessen fuhr Schenja schweres Geschütz auf, zog mit einem Turm über das ganze Brett, stieß Arkadis König um und wischte alle Figuren in die Kiste. Er hatte kein Wort gehört.
    Der letzte Programmpunkt war eine Fahrt mit dem Riesenrad, das sich weiterdrehte, während Arkadi und Schenja ihre Karten abgaben, in die offene Gondel stiegen und die Bügel schlossen. Eine komplette Umdrehung des fünfzig Meter hohen Rades dauerte fünf Minuten. Auf dem Weg nach oben bot sich zunächst eine Aussicht auf den Vergnügungspark, dann auf Gänse, die vom See aufflogen, und Inlineskater, die über die Wege glitten, und schließlich, am höchsten Punkt, ein Panoramablick durch ein luftiges Gespinst aus flaumigen Pappelsamen auf das graue Moskau bei Tag. Hier und da blitzte eine goldene Kirche auf, und in der Ferne raunten der Verkehr und die Baustellen. Auf dem Weg nach oben reckte Schenja unablässig den Hals, spähte mal in die eine, mal in die andere Richtung, als könnte er die gesamte Einwohnerschaft der Stadt erfassen.
    Arkadi hatte versucht, Schenjas Vater ausfindig zu machen, obwohl der Junge sich weigerte, dessen Vornamen zu verraten oder der Miliz bei der Erstellung einer Phantomzeichnung zu helfen. Arkadi hatte das Moskauer Einwohnerverzeichnis, Geburtsregister und Einberufungslisten nach einer Familie Lysenko durchgesehen. Für den Fall, dass der Vater Alkoholiker war, hatte er in Entziehungsanstalten nachgefragt. Da Schenja so gut Schach spielte, hatte er Schachklubs abgeklappert, und weil Schenja so behördenscheu war, Verhaftungsprotokolle durchforstet. Sechs Personen waren als Kandidaten in Frage gekommen, aber wie sich herausstellte, besuchten sie entweder Priesterseminare, dienten in Tschetschenien oder verbüßten langjährige Haftstrafen.
    Als Schenja und Arkadi ganz oben ankamen, blieb das Rad stehen. Der Kartenabreißer am Boden rief mit dünner Stimme und winkte. Kein Grund zur Besorgnis. Schenja war froh, dass er mehr Zeit hatte, die Stadt abzusuchen, und Arkadi erwog die Vorteile einer vorzeitigen Pensionierung: die Chance, neue Sprachen und neue Tänze zu lernen, exotische Länder zu bereisen. Seine Aktien beim Staatsanwalt sanken definitiv. War man im Riesenrad des Lebens ganz oben angekommen, lag alles andere gewissermaßen unter einem. Er hing buchstäblich in der Luft. Pappelsamen trieben vorüber wie Schaum auf einem Fluss.
    Das Rad setzte sich wieder in Bewegung, und Arkadi lächelte, um zu demonstrieren, dass er seine Gedanken nicht hatte schweifen lassen. »Glück gehabt! Weißt du, in Island gibt es eine Art Geist, einen Kobold, der nur aus einem Kopf und einem Fuß besteht. Dieser Kobold ist ein großer Schelm und immer zu Streichen aufgelegt. Er versteckt gern Sachen wie Schlüssel oder Socken, und man kann ihn nur aus dem Augenwinkel sehen. Wenn man ihn direkt anschaut, verschwindet er. Vielleicht ist das die beste Art, manche Leute anzusehen.«
    Schenja nahm kein Wort zur Kenntnis, was allein schon deutlich machte, dass Arkadi für ihn lediglich eine Fahrgelegenheit war, ein Mittel zum Zweck. Als die Gondel den Boden erreichte, stieg der Junge aus, bereit, ins Heim zurückzukehren. Arkadi ließ ihn vorausgehen.
    Nach Arkadis Ansicht kam es darauf an, nicht mehr von ihm zu erwarten. Offensichtlich war Schenja
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