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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen
Autoren: Martin Cruz Smith
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in sein Schicksal ergab.
    Dann zuckte er zusammen. Er war im Stehen tot, er war im Fallen tot, er war tot, als er ausgestreckt auf der Erde lag, und Oxanas Schuss war nicht lauter gewesen als das Knacken eines Zweigs. Während sie hinter dem Karussell hervortrat, zog sie den Arm aus einer Schlinge, in die sie das Gewehr beim Schuss gelegt hatte. Die Waffe erinnerte Arkadi an die Kleinkaliberbüchsen, die er in der Wohnung der Katamais in Slawutitsch gesehen hatte.
    »Verzeihen Sie«, sagte sie, »ich hatte mein Gewehr beim Roller zurückgelassen. Fast wäre ich zu spät gekommen.«
    »Aber nur fast.«
    »Dieses Schwein hat meinen kleinen Bruder umgebracht.«
    Sie gab Alex einen Fußtritt.
    »Er ist tot.« Arkadi versuchte, sie wegzuziehen.
    »Er war ein Teufel. Ich habe jedes Wort gehört.« Sie spuckte auf Alex, ehe es Arkadi gelang, sie zu beruhigen. Er wischte Alex den Speichel aus dem Gesicht. Alex war nichts anzumerken. Seine Augen waren klar, und auf seinen Lippen lag ein wissendes Lächeln. Jetzt erst brach sein Blick, und seine Muskeln begannen zu erschlaffen. Arkadi musste ihm einen Finger ins Ohr stecken, um das Einschussloch und einen Tropfen Blut zu finden.
    »Wird man mich verhaften?«, fragte Oxana.
    »Weiß sonst noch jemand, dass Sie Ihren Großvater mit Häuten zum Ausstopfen beliefern?«
    »Nein, das wäre ihm peinlich. Wussten Sie es denn?«
    »Zuerst dachte ich, die Häute seien von Karel, aber dann sah ich, in welchem Zustand er sich befand. Da war mir klar, dass sie von Ihnen stammten.«
    »Kann man anhand der Kugel die Waffe ermitteln?«
    »Nein. Nach Kontakt mit Knochen ist so ein Bleigeschoss praktisch wie Kaugummi. Wie war das mit Hulak?« Arkadi konnte sich kaum auf den Beinen halten, doch Oxana machte sich so rar, dass er das Gefühl hatte, er sollte jetzt gleich mit ihr reden, da er später vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu haben würde.
    »Er hat meinem Großvater erzählt, dass er Ihnen das Geld abknöpfen wollte. Anschließend sollten Sie mit dem Kühlsee Bekanntschaft machen.«
    »Haben Sie in einem Boot gewartet?«
    »Ich angle dort gelegentlich.«
    »Haben Sie Hulak erschossen?«
    »Er war bewaffnet.«
    »Sie haben Hulak erschossen.«
    »Er wollte meinen Großvater mit hineinziehen.«
    »Und Sie schützen Ihre Familie?«
    Oxana runzelte die Stirn. Durch die Kahlheit wurde ihr Mienenspiel überbetont. Nein, diese Frage gefiel ihr nicht. Sie rutschte aufs Sofa und legte sich Karels Kopf in den Schoß.
    »Wissen Sie, wie Ihr Bruder so krank geworden ist?«, fragte Arkadi.
    »Ein Salzstreuer war schuld. Er hat mir erzählt, dass er Cäsium in einen Salzstreuer getan hat, und dabei ist ein Korn danebengefallen. Oder auch zwei. Er trug Handschuhe, und eigentlich hätte nichts passieren dürfen, aber später aß er ein Sandwich und …« Sie verzog das Gesicht. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine Weile hier sitzen bleibe?«
    »Bitte.«
    »Karel und ich haben oft so zusammengesessen.«
    Sie fasste ihrem Bruder über die Schulter und zog die Falten seines Eishockeytrikots glatt, legte seine Hände übereinander, brachte seine Zöpfchen in Ordnung. Sie wurde immer geistesabwesender, und Arkadi begriff, dass er keine Antworten mehr erhalten würde.
    »Ich muss gehen«, sagte er.
    »Kann ich bleiben?«
    »Das ist Ihre Stadt.«
    Arkadi fuhr mit Alex’ Pritschenwagen hinunter zur Uferstraße und am Fluss entlang zu den Kais und der versenkten Flotte, dann über die Brücke und das rauschende Stauwehr. Sein Motorrad lag hinten auf der Ladefläche. Er konnte unmöglich rechtzeitig dort sein. Rechtzeitig wozu, wusste er nicht. Er hatte nur das Gefühl, dass die Zeit drängte. Vorbei an den Wohnblocks, die praktisch leer standen, so wie alles hier praktisch leer stand, dann auf den Feldweg, durch eine Wiese mit Rohrkolben und Farnen, die schwankten, als er vorbeifuhr, und zu der Garage, die hinter Bäumen versteckt lag.
    Er stellte den Motor ab. Der weiße Pritschenwagen schien den ganzen Hof einzunehmen. Die Hütte lag still im Dunkeln und verströmte eine Traurigkeit, die Kerzen zum Verlöschen bringen konnte. Baumwipfel bogen sich im Wind, und der Fluss rauschte, doch im Haus regte sich nichts.
    Was habe ich nur getan?, fragte sich Arkadi. Die Fliegengittertür knallte.
    Eva trug den Morgenrock, und der Blick ihrer großen Augen war verschleiert, doch sie umklammerte die Pistole fest mit beiden Händen. Sie torkelte barfuß über den Boden, aber der Lauf blieb auf ihn gerichtet. Sie
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