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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen
Autoren: Martin Cruz Smith
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des Toyota. Eine Pistole tauchte in Alex’ Hand auf. Normalerweise brauchte man zu Fuß von der Schule zum Rummelplatz nur ein paar Minuten. Arkadi fragte sich, wie lange er die Sache noch hinauszögern konnte.
    »Nach Ihnen.« Alex verpasste ihm einen Stoß.
    Arkadi taumelte vorwärts, und dabei fiel ihm ein, dass mal jemand behauptet hatte, ein Delinquent habe auf dem Weg zum Galgen nur einen Gedanken. Das stimmte nicht. Er dachte an seine Lieblingsmusik, an Irinas Lachen, an seine Mutter, wie sie im Bett blieb, um zum wiederholten Mal Anna Karenina zu lesen, an Stiefmütterchen auf einem Grab. Er dachte daran, dass Eva immer wieder angerufen hatte und er einfach nur hätte rangehen müssen.
    »Warum?«, fragte Arkadi. »Was haben Pascha Iwanow und Timofejew verbrochen? Was rechtfertigt den Tod von bislang fünf Menschen? Was haben Pascha und Timofejew getan, was hat Sie zu diesem Irrsinn getrieben?«
    Alex nickte beifällig. »Endlich mal eine interessante Frage. Was haben die beiden getan, damals, in der Nacht, als der Unfall in Tschernobyl passierte? Nun ja, Sie können sich nicht vorstellen, dass sie überhaupt etwas getan haben. Sie waren ja nur zwei junge Dozenten an einem Moskauer Institut. Aber sie waren die Lieblingsschüler meines Vaters, saßen abends bei dem alten Herrn und tranken mit ihm, wenn ihm danach war, und ihm war oft danach. Auch an jenem Abend, als der Anruf vom Zentralkomitee der Partei kam. Sie wollten, dass er nach Tschernobyl flog und sich ein Bild von der Lage machte, schließlich war er das berühmte Akademiemitglied Felix Gerasimow und hatte mit Atomunfällen mehr Erfahrung als jeder andere. Doch der weltweit führende Experte war leider so betrunken, dass er nur noch lallen konnte, und so gab er Pascha den Hörer.«
    »Wo waren Sie?«
    »Ich war an der Moskauer Universität und schlief tief und fest in meinem Zimmer.« Die Erinnerung ließ seine Schritte langsamer werden. »Woher wissen Sie das alles?«
    »Mein Vater hinterließ zwar keinen offiziellen Abschiedsbrief, aber er hat mir geschrieben und alles gebeichtet, bevor er sich das Leben nahm. Das Zentralkomitee wollte von ihm wissen, ob man die Menschen evakuieren und was man ihnen sagen sollte. Und Pascha tat so, als gebe er nur seine Antworten weiter.«
    Arkadi sah Karel auf dem Sofa vor dem Karussell und über ihn gebeugt seine Schwester, Oxana. Sie trug denselben Jogginganzug. Er erkannte sie an ihrem kahl geschorenen Schädel, der bläulich schimmerte. Sie war wie der isländische Kobold, der immer wie aus dem Nichts auftauchte. Alex, der einen Schritt hinter ihm ging, hatte sie noch nicht bemerkt.
    »Pascha fragte, ob der Reaktorkern freigelegt worden sei. Das Zentralkomitee verneinte, denn das war die Auskunft, die es aus dem Kontrollraum erhalten hatte. Pascha fragte, ob der Reaktor abgeschaltet sei. Ja, hieß es aus Tschernobyl. Gut, sagte er, dann sei alles wohl halb so schlimm. Löst keinen Alarm aus, verteilt nur Jodtabletten an die Kinder und empfehlt den Anwohnern, einen Tag lang in geschlossenen Räumen zu bleiben, bis das Feuer gelöscht und die Brandursache geklärt ist. Was mit Kiew sei, fragte das Zentralkomitee. Dort sei es noch wichtiger, den Deckel draufzuhalten, erwiderte Pascha. Konfisziert Dosimeter. >Im Interesse des Allgemeinwohls müsst ihr rücksichtslos sein.< Pascha und Lew waren ehrgeizig. Sie erzählten dem Komitee und meinem Vater nur, was diese hören wollten. So hat sowjetische Wissenschaft funktioniert, wissen Sie noch? Die Evakuierung Pripjats wurde also um einen Tag verschoben, und Kiew wurde erst sechs Tage später gewarnt, so dass eine Million Kinder, darunter auch unsere Eva, an der Maiparade teilnehmen und kontaminiert werden konnte. Pascha und mein Vater trugen nicht die alleinige Verantwortung - es gab viele andere Duckmäuser und Lügner -, aber eine Mitschuld sehr wohl.«
    »Ihr Vater hatte fehlerhafte Informationen. Gab es eine Untersuchung?«
    »Die Sache wurde beschönigt. Immerhin war er Felix Gerasimow. Ich wollte am Morgen zur Uni gehen, da stand er plötzlich vor mir, nüchtern, wie aus dem Boden gewachsen, und gab mir Jodtabletten. Er wusste Bescheid. Fortan gab es an jedem Ersten Mai ein großes Besäufnis. Sechzehn Jahrestage. Schließlich schrieb er den Brief, versiegelte ihn, trug ihn selbst zur Post, kehrte nach Hause zurück, nahm seine Pistole und peng!«
    Oxanas Kopf fuhr herum. Arkadi fragte sich, wie Alex und er im Mondlicht wohl für sie aussehen mochten,
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