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Treibland

Treibland

Titel: Treibland
Autoren: Till Raether
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Sie? Hat Edward Jenner richtig gehandelt, auch aus heutiger Sicht? Angenommen, Sie wären der festen Überzeugung, dass Sie der Menschheit einen unschätzbaren Dienst erweisen könnten, dafür müssten Sie aber einen oder mehrere Menschen in große Gefahr bringen oder sogar opfern. Was würden Sie tun?»
    Wieder vibrierte sein Telefon. Eine Nummer aus der Staatsanwaltschaft.
    «Habernis», meldete sich der Staatsanwalt mit milder Stimme. «Richter Quern weigert sich, Sie anzurufen, weil Sie offiziell nicht mehr der ermittelnde Beamte sind, aber ich versichere Ihnen: Der Haftbefehl kommt. Allerdings ist der Verdächtige nicht an seinem Wohnsitz. Kann es sein, dass er sich bei Ihnen aufhält?»
    Danowski sagte nichts.
    «Sobald Sie den Kollegen sagen, wo Sie den Verdächtigen festhalten, kann der Zugriff erfolgen. Stellen Sie sich auf sofortige Quarantänemaßnahmen ein.»
    Danowski lächelte. Mit Habernis zu telefonieren war immer so, als würde man seinen eigenen Problemen als Hörbuch lauschen. Danowski war versucht, ihm zu vertrauen: Wer ihn beschwindeln wollte, hätte sich mehr Mühe gegeben, nicht so ölig verbindlich zu klingen wie der Staatsanwalt.
    «Danke», sagte Danowski.
    Er legte auf und betrachtete Peters. «Es geht zu Ende», sagte er. «Worauf wollen Sie hinaus? Was ist auf diesem Band?»
    «Ich würde Ihnen empfehlen, es sich nicht anzuschauen. Man kann Dinge nicht ungesehen machen. Sie sollten nur wissen, dass Cay Steenkamp sich zeit seines Lebens als jemand begriffen hat, der in der Lage ist, den Menschen ein großes Geschenk zu machen.»
    «Ein Menschenhasser wie Steenkamp? Jemand, der eine Frau niederschlägt, weil sie eine Schuppentür offen gelassen hat? Schwer vorstellbar.»
    «Jemandem ein Geschenk zu machen ist ursprünglich der ultimative erniedrigende Akt. Es gibt primitive Stämme, für die es ein Kriegsgrund ist, wenn ein anderer Stamm ihnen Geschenke macht. Wer Geschenke macht, bringt andere in Abhängigkeit. Geschenke können in jeder Hinsicht auch Gift sein. Denken Sie an die Wortverwandtschaft, den gemeinsamen Stamm. Ich glaube aber gar nicht, dass Steenkamp sich dessen bewusst war. Ich glaube, Steenkamp wollte auf seine Weise wirklich was gutmachen. Er hat darunter gelitten, unter welchen Umständen sein Vater die Firma an sich gebracht hat. Ganz zu schweigen davon, wie der Vater bis 1945 seine Medikamente entwickelt hat.»
    «Ich weiß», sagte Danowski. «Sie waren’s nicht, Steenkamp war’s nicht. Adolf Hitler war’s.»
    «Sie neigen dazu, die Dinge zu trivialisieren, Herr Hauptkommissar», sagte Peters. «Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass Ihnen die großen Dinge Angst machen, oder dass Sie einen kleinen Geist haben. Eigentlich möchte ich mir beides nicht vorstellen.»
    Ich glaube, dachte Danowski, dass ich eher einen großen Geist habe, dem die kleinen Dinge Angst machen.
    «Wir werden uns das jetzt anschauen, denn nennen Sie mich pingelig, aber ich wüsste einfach gern, was Sie gegen Steenkamp in der Hand hatten», sagte Danowski und suchte die Play-Taste auf der abgegriffenen Fernbedienung.
    Peters seufzte. Es klang nicht mehr gespielt, sondern eher so, wie jemand mit Spritzenphobie ausatmete, bevor ihm Blut abgenommen wurde.
    «Jenner hat später, weil man ihm nicht geglaubt hat, auch Versuche an seinem eigenen elf Monate alten Sohn gemacht», sagte er halblaut, als wollte er seinen historischen Exkurs gern noch zu Ende führen. Danowski spürte die kostbare Sessellehne unter seiner linken Handfläche und merkte, dass er unwillkürlich begonnen hatte, mit den Fingernägeln nervös an der Ledernaht entlangzufahren. Er hatte in seinem Beruf noch nie ein Video gesehen, bei dessen Anblick nicht irgendetwas in ihm kaputtgegangen war. Oft etwas Kleines, das sich wieder reparieren ließ, aber immer mal wieder auch etwas Großes, das irreparabel ein Teil von ihm wurde.
    Über den Bildschirm liefen die charakteristischen Streifen einer alten Videoaufnahme, weiß vor schwarzem Hintergrund. Dann blendete das Bild auf, verwackelt, schief, durch einen Raum schwenkend, von dem man noch nichts erkennen konnte, weil derjenige, der die Kamera bediente, sich damit offenbar nicht auskannte und noch dabei war, sie auf einem Stativ zu befestigen. Bevor man sie sah, hörte man die Stimmen von Kindern, zuerst keine Worte, sondern nur Getuschel, als wären sie gerade von einem strengen Erwachsenen aufgefordert worden, leise zu sein. Dann hörte er etwas deutlicher eine Stimme, von der
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