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Treibland

Treibland

Titel: Treibland
Autoren: Till Raether
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noch zu erkennen – zwei offene Decks, vorne die Brücke, hinten der aerodynamisch geschwungene Schornstein. Der Schiffsname « MS  Große Freiheit» prangte vorne am Rumpf, oben unterhalb der Brücke und in bunten Buchstaben am Schornstein, als habe die Reederei ihn wirklich auf gar keinen Fall vergessen wollen.
    Die großen Container- oder Kühlschiffe, die Tanker und Frachter, die Danowski am Wochenende mit der Familie vom Elbstrand aus bestaunte, als bräuchte man nur den Arm auszustrecken, um ihre großflächig kalfaterte raue Metallhaut zu berühren, waren von erdrückend gleichgültiger Schönheit. Die «Große Freiheit» hatte nichts davon: Das Schiff wirkte nervös, als müsse es mit aller Kraft jedem gefallen und als könne es dabei doch immer nur eine leichte Enttäuschung verursachen.
    «Mittlere Schiffsklasse», nuschelte Kristina Ehlers am Filter ihrer nächsten Zigarette vorbei. «Ich schätze mal so zwölf- bis fünfzehnhundert Passagiere, dreihundert Besatzungsmitglieder. Etwa zehn bis fünfzehn Jahre alt. Alt für so ein Schiff. Lief bis vor drei Jahren unter dem Namen ‹ MS  Romantic›, aber die Reederei hat sie umbenannt, um sie vor allem in Deutschland zu vermarkten. Zweihundert Meter lang, fünfzig Meter hoch …»
    «Ist ja irre», sagte Finzi. «Was Akademiker nicht alles wissen.»
    «Kleines Hobby von mir», sagte Ehlers.
    «Große Schiffe?», fragte Finzi, gegen seinen Willen offenbar schon wieder fasziniert von ihr.
    «Nee», sagte sie trocken. «Alles zu wissen.»
    Danowski blieb stehen. Er hatte die Sonne schräg im Rücken und blickte in die funkelnde Fläche von Gesichtern der Menschen, die vom Schiff auf ihn heruntersahen. Er hatte das Gefühl, plötzlich von einer Flut von Informationen fortgerissen zu werden: so viel zu lesen, so viel zu verstehen. Familiengesichter, alte Gesichter, Kindergesichter, helle Gesichter und dunkle. Die dunklen in allen Schattierungen eher über weißen und blauen Uniformen, Personal. Die hellen Gesichter über Freizeitkleidung, sehr viele Pullover, die lässig über nach vorn gebeugte Schultern geschlungen waren. Er riss sich los, denn er konnte von hier aus ohnehin nicht genug erkennen. Abgesehen davon, dass die meisten Gesichter unbewegt waren, abwartend, skeptisch, so, als wäre er derjenige, der jetzt durch ein Handzeichen den Bann brechen und alle würde von Bord gehen lassen.
    Danowski schloss die Augen. Er hörte, wie die Container auf der anderen Seite der Elbe knallten, das unrhythmische Knacken und Knistern der Funkgeräte vom Pier und von der Tenderpforte, Möwen und wie Wasser sich bewegte. Die Elbe roch frisch, fast salzig, aber darüber lag eine dicke Schicht Dieselabgase, die ihn daran erinnerte, dass die Motoren des Schiffes im Leerlauf weiterarbeiteten, um Strom zu erzeugen und die Systeme an Bord aufrechtzuerhalten.
    Als er sich zum Weitergehen zwang, mit Blick immer noch auf das Schiff und all die angespannt wartenden Passagiere, reagierte sein Körper unwillkürlich mit einer tief in Vergessenheit geratenen Muskelerinnerung: Danowski winkte, weil man Schiffen winkte, egal, ob sie an einem vorüberzogen oder vor einem lagen.
    Niemand an Bord winkte zurück.
    Auf einem Balkon drehte sich eine junge Frau weg, die Personaluniform trug und afrikanisch aussah, und ging ohne einen Blick zurück ins Dunkel. Es fiel Danowski auf, weil dieser Balkon damit als einziger menschenleer war.
    Hinter dem Eingang öffnete sich im Inneren des Schiffes ein Foyer, das über mehrere Stockwerke zu gehen schien, mit Balustraden, an denen sich künstliche Palmen nach oben rankten. Zwischen zwei stehenden Rolltreppen wand sich eine große, leicht zur Seite geschwungene helle Treppe aus Marmorimitat. Es sah aus wie die Halle eines besseren, aber nicht besonders schönen Kettenhotels oder wie der Eingangsbereich eines Einkaufszentrums. Mehr konnte Danowski nicht erkennen, denn der angekündigte Posten der Bundespolizei ließ sie nicht passieren. Ein paar Beamte, die Danowski nur noch als grünes Grüppchen wahrnahm, mit dem Finzi und Ehlers vergeblich verhandelten. An den Geländern der Balustraden standen weitere Passagiere, aber die Stimmung war gespannter, als er von draußen vermutet hatte. Er meinte fast, die Spuren zu sehen, die die Gerüchte in den Gesichtern der Passagiere hinterlassen hatten.
Einer ist tot, weißt du wer? Der Dicke vom Nachbartisch, der melancholische Zweite Offizier, der Schiffsarzt mit den gebleichten Zähnen? Es war ein
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