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Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit
Autoren: Barbara Wood
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wies auf den Aborigine.
    »Nehmen Sie es nicht persönlich, Miss. Vermutlich war ihm der Koffer zu schwer. Diese Menschen halten nicht viel von richtiger Arbeit. Ich werde Ihnen das Gepäck hinunterbringen.«
    Sie folgte dem Mann die Gangway hinunter und drehte sich noch einmal verwirrt nach dem Ureinwohner um. Aber er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
    »Da wären wir, Miss«, sagte der Träger, als sie am Kai standen. »Werden Sie abgeholt?«
    Sie sah auf die vielen Menschen, von denen einige den ankommenden Passagieren zuwinkten, und dachte an einen Tagebucheintrag ihrer Mutter. Lady Emily hatte dort geschrieben: »Manchmal frage ich mich, ob irgendwo in Australien noch jemand von meiner Familie lebt – meine Eltern vielleicht?«
    Joanna gab dem Mann ein paar Münzen und sagte: »Nein. Nein, ich werde nicht abgeholt.«
    Inmitten der aufgeregten Menschenmenge zwang sich Joanna, darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Zuerst brauchte sie eine Unterkunft. Sie mußte irgendwie mit dem für ihren Lebensunterhalt ausgesetzten Geld zurechtkommen, denn das ganze Erbe würde man ihr erst in zweieinhalb Jahren auszahlen. Als nächstes würde sie jemanden suchen müssen, der ihr half, den Grundbesitz ihrer Familie ausfindig zu machen, und jemanden, der noch etwas über die Verhältnisse in Australien vor siebenunddreißig Jahren wußte.
    Plötzlich hörte Joanna hinter sich lautes Geschrei. Jemand rief: »Haltet ihn! Haltet den Jungen!«
    Sie drehte sich um und sah an Deck einen kleinen Jungen, der wie ein Blitz durch die Menge rannte. Er konnte höchstens vier oder fünf sein. Ein Steward verfolgte ihn erst in die eine und dann in die andere Richtung.
    »Haltet ihn!« rief der Mann atemlos. Als die Leute das Kind festhalten wollten, drehte der Kleine sich blitzschnell um, stürmte die Gangway hinunter und dicht an Joanna vorbei.
    Sie sah, wie der Junge mit seinen dünnen Beinchen in seiner kurzen Hose ziellos hin und her rannte. Als der Steward ihn schließlich einholte, ließ er sich fallen und begann, den Kopf auf den Boden zu schlagen.
    »Aber, aber!« rief der Mann, packte den Jungen am Kragen und schüttelte ihn. »Hör damit auf!«
    »Warten Sie!« sagte Joanna, »Sie tun ihm weh!«
    Sie kniete sich neben den Jungen, der sich im Griff des Stewards wand, und sah, daß er sich die Stirn aufgeschlagen hatte. »Hab keine Angst«, beruhigte sie ihn, »niemand wird dir etwas tun.« Sie öffnete die Tasche, holte ein Tuch heraus und betupfte sanft die Wunde. »Siehst du«, sagte sie, »jetzt tut es nicht mehr weh.«
    Sie sah den Steward an. »Was ist denn geschehen?« fragte sie. »Er hat schreckliche Angst.«
    »Tut mir leid, Miss, ich weiß es nicht. Und ich bin auch kein Kindermädchen. Man hat ihn in Adelaide an Bord gebracht, und jemand mußte sich um ihn kümmern. Er war in den letzten Tagen unter Deck und hat mir nichts als Ärger gemacht. Er wollte nichts essen, nicht reden …«
    »Wo sind seine Eltern?«
    »Weiß ich nicht, Miss. Ich weiß nur, er hat mir nur Ärger gemacht und soll hier von Bord. Jemand wird ihn abholen.«
    Joanna bemerkte, daß am Hemd des Jungen mit einer Sicherheitsnadel ein Geldschein und ein Blatt Papier festgesteckt waren. Auf dem Papier stand: ADAM WESTBROOK . »Heißt du Adam?« fragte sie. »Adam?«
    Der Junge starrte sie an, sagte aber nichts.
    Der Steward machte Anstalten, sich den Geldschein zu nehmen. »Ich glaube, nach all der Mühe, die ich mit ihm hatte, habe ich das wohl verdient.«
    »Das Geld gehört ihm«, sagte Joanna. »Nehmen Sie es ihm nicht weg.«
    Der Steward sah sie verblüfft an, betrachtete das hübsche Gesicht der jungen Dame und hörte an ihrer Stimme, daß sie gewohnt war, Befehle zu geben. Er bemerkte das teure Kleid, und als er den Anhänger an ihrem Schrankkoffer sah, der verriet, daß sie erster Klasse gereist war, kam er zu dem Schluß, sie müsse eine Dame der besseren Gesellschaft sein. »Sie haben vermutlich recht«, sagte er. »Wissen Sie, ich habe nichts gegen Kinder. Aber er war wirklich eine Zumutung. Die ganze Zeit hat er nur geweint und solche Ausbrüche gehabt. Und er wollte nicht reden – nicht ein einziges Wort! Also, ich muß wieder an Bord.« Ehe Joanna etwas erwidern konnte, übergab ihr der Steward ein Bündel und verschwand in der Menge.
    Joanna betrachtete den Jungen aufmerksam. Er hatte ein blasses, sehr zartes Gesicht. Sie dachte: Wenn ich ihn hochhebe und gegen das Licht halte, kann ich durch ihn hindurchsehen.
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