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Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit
Autoren: Barbara Wood
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diesem nächtlichen Himmel zu vergleichen. Die Sterne bildeten Formationen, die sie noch nie gesehen hatte. Die vertrauten Sternbilder ihrer Kindheit waren verschwunden. Neue leuchteten jetzt über ihr, denn sie befand sich inzwischen bereits in der südlichen Hemisphäre.
    Joanna dachte über den Traum nach und über seine mögliche Bedeutung. Es war verständlich, daß sie von dem Begräbnis träumte und auch von dem Hund. Aber wieso träumte sie von einer Sternenschlange und weshalb die Angst? Warum schien die Schlange sie vernichten zu wollen?
    Wenige Wochen vor ihrem Tod hatte Lady Emily in ihr Tagebuch geschrieben: »Träume quälen mich. Ein ständig wiederkehrender Alptraum, für den ich keine Erklärung habe, macht mir unerträgliche Angst. Die anderen Träume sind seltsame Bilder von Ereignissen, die mich zwar nicht beängstigen, die mir aber unglaublich wirklich zu sein scheinen. Handelt es sich dabei um verlorene Erinnerungen? Taucht auf diese Weise endlich langsam meine Kindheit wieder auf? Wenn ich es nur wüßte! Ich spüre, daß die rätselhaften Träume die Antwort auf mein Leben enthalten. Ich muß diese Antwort bald finden, oder ich werde sterben.«
    Geräusche, die über das Wasser drangen, rissen Joanna aus ihren Gedanken. Sie hörte die Stimme eines Mannes aus der Dunkelheit: »Schlag, Schlag, Schlag«, und das rhythmische Eintauchen von Rudern ins Wasser. Joanna fiel wieder ein, daß die
Estella
in einer Flaute lag.
    »So etwas habe ich noch nie erlebt«, hatte der Kapitän am Vortag zu ihr gesagt. »In all den Jahren zur See bin ich auf diesen Breiten noch nie in eine Windstille geraten. Ich kann es mir absolut nicht erklären. Ich muß wohl die Barkassen zu Wasser lassen und sehen, ob meine Männer uns mit Rudern aus dem Windloch herausbringen können.«
    Joannas Angst stellte sich wieder ein.
    Sie hatte gewußt, daß es so kommen würde. Sie hatte es geahnt. Bereits in dem Sanatorium in Allahabad, wo sie sich nach dem plötzlichen und unerwarteten Tod der Eltern ein paar Wochen erholte, hatte sie von dieser bedrohlichen Windstille geträumt.
    Warum …? Sie fröstelte unter dem Umschlagtuch und dachte: Kann das, was meine Mutter quälte und schließlich tötete, auch mich bis hierher auf dieses Meer verfolgen?
    »Du mußt nach Australien fahren«, hatte Lady Emily wenige Stunden vor ihrem Tod zu Joanna gesagt. »Du mußt die Reise allein machen, die wir zusammen vorhatten. Etwas vernichtet uns. Du mußt die Ursache finden und dem Unheil ein Ende setzen, sonst wird dein Leben wie das meine enden – zu früh, und ohne daß jemand weiß, warum.«
    Joanna wandte sich vom Bullauge ab und sah sich in der winzigen Kabine um. Als wohlhabende junge Frau konnte sie sich für die lange Fahrt von Indien nach Australien eine Einzelkabine leisten. Jetzt war sie dafür sehr dankbar. Sie wollte auf dieser Reise niemanden in der Kabine bei sich haben. Sie mußte mit ihrer Trauer allein sein. Sie brauchte Zeit, das zu verstehen, was ihrer Familie und ihr selbst zugestoßen war. Sie mußte langsam begreifen, was sie eigentlich auf die andere Seite der Welt führte und in ein Land, von dem sie so wenig wußte.
    Joanna blickte auf die Papiere, die auf dem kleinen Sekretär lagen. Sie enthielten ein altes Erbe, das Erbe von Großeltern, die sie nie gekannt hatte. Joanna hatte versucht, diese Papiere zu entziffern, so wie ihre Mutter versucht hatte, ihre Bedeutung zu verstehen. Auf dem Sekretär lag auch das Tagebuch ihrer Mutter – Lady Emilys ›Leben‹, ein Buch voll von ihren Träumen, Ängsten und vergeblichen Bemühungen, das Geheimnis ihres Lebens zu enthüllen: die verlorenen Jahre, an die sie keine Erinnerungen besaß, und die Alpträume, die offenbar eine beängstigende Zukunft prophezeiten. Dort lag auch eine Grundbesitzurkunde – auch sie gehörte zu dem Erbe, das jene Großeltern Joanna hinterlassen hatten. Niemand wußte, wo sich das in der Urkunde bezeichnete Land befand, und weshalb die Großeltern es gekauft oder ob sie dort gelebt hatten.
    »Aber ich spüre es deutlich, Joanna«, sagte Lady Emily am Ende ihres Lebens, »die Antwort zu allen Fragen liegt an diesem Ort, den diese Urkunde nennt. Das Land befindet sich irgendwo in Australien. Vielleicht bin ich dort geboren worden. Ich weiß es nicht. Manchmal frage ich mich, ob die Frau, die ich in meinen Träumen sehe, dort ist oder einmal dort war. Es ist denkbar, daß meine Mutter noch dort ist, daß sie noch lebt. Aber das wäre sehr
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