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Traumtrunken

Traumtrunken

Titel: Traumtrunken
Autoren: Kathrin Schachtschabel
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betrachtete die gelben und orangen Schönheiten um sich herum, die sie in den nächsten Monaten großziehen würde. Und sie genoss es, dass Atze kam und sich neben sie setzte. Dass er heute Abend hier und sie nicht allein war.
     
    ***

„Eine gute Zeit, Herr Schuhberg!“
    „Danke, Ihnen auch.“ Atze blickte der Frau einen Moment hinterher und schloss dann die Wohnungstür. Aufgebracht ging er zu Michaela zurück. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du im Heim aufgewachsen bist?“
    „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ Michaela saß auf dem Sofa und hatte inzwischen den Fernseher eingeschaltet. „Ist doch nicht wichtig“, sagte sie wie ein trotziges Kind und starrte auf das Fernsehbild.
    Atze kannte sie so nicht. Er musste die Neuigkeit erst verarbeiten, auch wenn er vor Frau Gehlbach so getan hatte, als ob er über alles Bescheid wüsste. Jetzt enttäuschte ihn Michaelas Unaufrichtigkeit. Und ihr kindisches Verhalten.
    „Hast du geglaubt, ich würde dich dann nicht mögen?“
    Michaela saß unbeteiligt da und antwortete nicht.
    Eigentlich müsste er jetzt wütend sein. Stattdessen spürte er seine Augen feucht werden und murmelte leise: „Du hättest es mir sagen müssen.“
    Dann setzte er sich zu ihr und sah sie von der Seite an.
    Er hatte so viele Fragen.
    Fragen, die nach Antworten verlangten. Fragen, auf die ihm Antworten zustanden!
    „Ich denk, du bist bei deiner Großmutter aufgewachsen?“
    Doch Michaela rührte sich nicht.
    „Michi!“
    „Nenn mich nicht Michi!“
    Böse sah sie zu ihm hinüber und Atze wich zurück.
    Dann stand sie auf, schaltete den Fernseher aus und ging.
     
    ***

Es war ihr zu viel. Es war ihr einfach zu viel. Sie wollte jetzt nicht alles erklären müssen. Vielleicht später, vielleicht zu einem besseren Zeitpunkt.
    Hätte die Gehlbach nicht an einem anderen Tag kommen können? Michaela verfluchte sie.
    Dabei konnte sie gar nichts dafür. Dass sie Atze kennenlernen wollte, damit hätte Michaela rechnen müssen. Sie ärgerte sich über ihre eigene Dummheit. War doch klar, dass die Gehlbach nach ihrem Schaf schauen wollte, das die Herde jetzt endgültig verlassen hatte. Michaela warf ihren Waschlappen ins Becken und das Wasser schwappte fast über.
    Wenn er nur nicht auch noch Michi zu ihr gesagt hätte. Das brachte sie ganz durcheinander.
    Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der sie so genannt hatte. Michaela hörte Oma Elvi rufen, als würde sie nebenan im Wohnzimmer mit dem Essen auf sie warten. Tränen traten in ihre Augen und ihr eigenes Gesicht verschwamm im Spiegel.
    Sie konnte sie nicht sehen. Viele Male hatte Michaela es versucht, hatte sich Mühe dabei gegeben. Aber alles, was ihr blieb, waren ihr Geruch und ihre liebevollen Worte.
    Michaela fühlte sich allein. Nicht so, als wäre Atze unterwegs. Da hatte sie immer eine Beschäftigung gefunden, mit der sie Atze dann am Wochenende überraschen konnte. Oder sie war früh schlafen gegangen, um morgens fit zu sein.
    Es war anders. Es war schlimmer. Viel schlimmer.
    Sie horchte nach drüben.
    Nichts. Stille. Noch nicht einmal der Fernseher lief.
    Atze tat ihr leid.
    Er war völlig erregt ins Wohnzimmer gekommen, nachdem er Frau Gehlbach nach draußen gebracht hatte. Und Michaela wollte nicht auf seine Tränen reagieren.
    Aber jetzt hinübergehen und sich bei ihm entschuldigen? Das konnte sie nicht. Schließlich war sie ihm keine Rechenschaft schuldig. Sie war ein eigenständiger Mensch. Was wusste sie schon von seiner Mutter? Nichts. Nur dass sie Friseuse war und in Unterfranken wohnte. Dort, wo Atze aufgewachsen war.
    Michaela zog ihren Schlafanzug an und verließ das Badezimmer. Sie öffnete das Fenster neben ihrem Bett weit und legte sich hin. Morgen würde sie es ihm erzählen. Alles.
    Dass Oma Elvi starb, als sie acht war und sie ins Heim musste, weil ihre Mutter es nicht fertig brachte, ihre Mutter zu sein.
    Dass sie dort mal mehr und mal weniger einsam war und sich an das erste Jahr ihrer Kindheit bei ihrer Mutter sowieso nicht erinnern konnte.
    Und vielleicht auch von ihrem Bruder. Das wusste sie noch nicht.
    Michaela fröstelte. Sie zog die Bettdecke bis zum Hals und drehte sich auf die Seite. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und ihr Herz gegen ihren Körper schlug. Sie hielt sich die rechte Hand an ihren Hals und versuchte, ruhig weiterzuatmen.
    So lange hatte sie es nicht gefühlt.
    So lange war sie glücklich gewesen mit Atze.
    Und jetzt war er weg. Weit weg von ihr.
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